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GLÜCKSKEKSE oder EIN KESSEL BUNTES





Niels Höpfner







Glückskekse oder Ein Kessel Buntes

Lastesel

Einer, der etwas trägt, ist ein Träger. Nein, nicht um Damen- oder Herrenmode soll's hier gehen. Auch nicht um Gepäckträger, die ja ziemlich ausgestorben sind, denn Demokraten schleppen ihre Koffer selber. Und ebenfalls nicht um Wasserträger, das wäre ein Problem der dritten Welt, viel zu weit entfernt, um uns unmittelbar zu betreffen. Auch die sogenannten Leistungsträger, in Wirtschaftskreisen höchst favorisiert, sollen links liegenbleiben, ebenso Flugzeugträger, ganz zu schweigen von irgendwelchen Preisträgern, die vornehmlich in Kunstgefilden herumpfauen.   

Nein, es geht vielmehr um eine Spezies von Trägern, die (zumal in schlechten Zeiten) stark im Kommen ist, deren Tragfähigkeit durch erhebliche Traglast herausgefordert wird – es geht um die Klasse der Hoffnungsträger.

Man trifft sie vornehmlich unter Politikern an. Herr Gerhard S. ist ein (wenn nicht überhaupt der) Hoffnungsträger der SPD, während die Grünen alle ihre Hoffnungsträger bereits verschlissen haben (einer ging in Feinschmeckerlokalen verloren). Wer an die Macht will, braucht Hoffnungsträger; wer die Macht hat, kann getrost auf sie pfeifen.

Auch im Sport und in der Kultur wimmelt es von Hoffnungsträgern, wenn es um ‹das große Ganze› geht: um den Fußball, um das Boxen, um die Literatur, um den Film, um die Kunst — und dann verglühen diese Meteore rasant, über Nacht. Ein undankbarer Job: Hoffnungsträger.

Und welch ein Wort: Hoffnungsträger! Man lasse es sich auf der Zunge (und im Kopf zergehen: Hoffnungsträger ... Hoffnungsträger ... Hoffnungsträger. Stemmt da nicht Atlas den Globus? Und: Hat dieses Wort nicht etwas — Eschatologisches? Etwas vom Erlöser, auf dessen Schultern die Hoffnung der Welt (und gleich der ganzen) ruht? Hoffnungsträger zu sein, bedeutet den Gipfel der Trägerkultur. Warnung: Nur nicht sich verheben! Keine Haftung bei Wirbelsäulenschäden.

Ernst Bloch hat uns das Prinzip Hoffnung eingebleut, wortstark und vielhundertseitig. Volkes Meinung ist — grenzenlos — solcher Botschaft gegenüber eher skeptisch. In Rußland dachte oder denkt man: «Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren.» In England spottet oder spottete man: «Wer von der Hoffnung lebt, tanzt ohne Musik.» Und hierzulande heißt es im Sprichwort: «Die Hoffnung ist ein langes Seil, an dem sich viele zu Tode ziehen.»

Fazit: Machen. Jetzt. Gleich. Nicht hoffen, nicht hoffen lassen. Lieber der magere Spatz in der Hand als die fette Taube auf dem Dach. Dann blendet — hoffentlich — bald auch nicht mehr der messianische Talmiglanz des sinister-unaufgeklärten Wortes Hoffnungsträger, das sich so pathetisch bläht.

 

 

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Godot, der Flegel

Vom Warten

Anscheinend gehört das Warten zur Conditio humana wie die Wespen zum Pflaumenkuchen. Religionsgläubige warten inbrünstig aufs erlösende Heil im Transzendentalen, und wir gewöhnlichen Atheisten kommen auch nicht ungeschoren davon.

Bauern warten meistens auf besseres Wetter, und in den unwirtlichen Städten wartet man an roten Ampeln: wer hier täglich nur vier Minuten wartet, hat im Monat zwei Stunden Lebenszeit verplempert und im Jahr einen vollen Tag.


Ganz zu schweigen vom Warten in Autobahnstaus, vom Warten vor Supermarktkassen und amtlichen Schaltern, vom Warten auf Straßenbahnen und Busse (nicht Buße), Züge und Flugzeuge, vom Warten darauf, daß etwas anfängt: ein Konzert, eine Theateraufführung, ein Kinofilm — das dürfte jährlich schon ein paar Wochen kosten. «Wer warten kann, hat viel getan», raunt ein Sprichwort — und impliziert das Wartenkönnen auch noch als vermeintliche Tugend.

Die deutsche Sprache differenziert sehr subtil überdachte Örter des Wartens: Wartezimmer, Wartesaal und Wartehalle. Um dies unseren ausländischen Freunden, die gerade einen Deutschkurs besuchen, paradigmatisch zu verdeutlichen: Im Wartesaal des Arztes waren weniger Leute als im Wartezimmer des Flughafens oder in der Wartehalle des Bahnhofs. Alles klar?

Im Spanischen ist unser ordinär-deutscher Wartesaal eine Sala de espera (im Französischen gibt's eine Analogie), und das Wort espera bedeutet auch Hoffnung: wer wartet, hofft, erwartet etwas. Und plötzlich umweht uns der Hauch des Existentiellen. «Im Wartesaal zum großen Glück, da warten viele, viele Leute» — so tönte, ziemlich depressiv, vor Jahrzehnten ein Chanson (meistens im Radionachtprogramm) und dürfte nicht ohne Einfluß auf die Selbstmordstatistik geblieben sein.

Existentielles Warten: Schlimm genug, wenn man den Freund oder die Geliebte bei einer Verabredung warten läßt; wesentlich ätzender noch, wenn ein Petent, ein Arbeitsloser zum Beispiel, auf seine Bewerbung monatelang keine Antwort erhält — da wird die Warteschlange leicht zur finalen Schlinge.

Ein Großmeister der Wartefolter ist Samuel Becketts ominös-numinoser Godot, der seine Klienten Estragon und Wladimir ad infinitum warten läßt. Godot, Archetyp des Jahrhunderts offenbar, ist ein sadistischer Flegel.

Wer wartet, mutiert im Grunde vom aktiven Subjekt zum passiven Objekt, denn er wird gewartet, ist, im philosophischen Sinne, ein Gewarteter. Jemanden warten zu lassen, ist eines der gemeinsten Herrschaftsinstrumente der Mächtigen. Grausame Vorzimmerdiktatur.

Nicht selten sind Mächtige selbst von langem Warten gekennzeichnete (und also ungeneröse) Emporkömmlinge; auch in Amt und Würden bleiben sie, was sie immer waren: Proleten ohne Manieren. Den ehernen Grundsatz Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige (sogar bei ihrer Hinrichtung, früher) kennen diese häßlichen Demokraten naturgemäß nicht.

Warten wir also auf bessere Zeiten. In der postkapitalistischen Gesellschaft wird — selbstverständlich! — auch das Warten abgeschafft sein. Alles gibt's dann für alle gleich, sofort, auf der Stelle — und wer's nicht glaubt, den sollen die Pflaumenkuchenwespen stechen!

 

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Der große Fake-Coup

Noch immer gilt der bombastische Spruch: «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.» Humbug.


Der römische Philosoph Lucius Annäus Seneca, kurz Seneca, geboren im Jahr 4 vor unserer Zeitrechnung und gestorben im Jahr 65 durch Selbstmord, in den ihn Kaiser Nero trieb, schreibt zur moralischen Aufrüstung in seinen ‹Briefen an Lucilius› genau das Gegenteil. Schließlich war der Mann kein Dummkopf.   

In der Epistel 106 heißt es im Original: «Quemadmodum omnium rerum, sic literarum quoque intemparantia laboramus: non vitae, sed scholae discimus.» Und die Übersetzung davon lautet: Wie in allem, so leiden wir auch in der Wissenschaft an Unmäßigkeit: nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.                       

Wer den armen Seneca so infam verfälscht hat, dürfte namentlich kaum mehr festzustellen sein. Bestimmt war es keine philologische Schlampigkeit, kein Übersetzungsfehler, sondern ein vorsätzlicher pädagogischer Akt irgend eines autoritären Schulmeisters im 19. Jahrhundert. Hier ist ein Überzeugungstäter am Werk gewesen.

Fest etabliert hat sich die Fälschung bereits 1876 in Karl Friedrich Wilhelm Wanders ‹Deutschem Sprichwörter-Lexikon›, einem «Hausschatz für das deutsche Volk», Neuauflage 1964. Und die Fälschung, mit Seneca als angeblichem Urheber, geistert bis heute weiter auch durch neueste seriöse Lexika: sicher zur Freude vieler Pauker und auch vieler Eltern ...

Aber der gute alte Büchmann rettet in seinen Geflügelten Worten Senecas fast verlorene Ehre, indem er korrekt zitiert: «Non vitae, sed scholae discimus — Nicht fürs Leben, für die Schule bloß lernt man!» Und fügt treuherzig hinzu: «Natürlich äußern wir solche ketzerische Ansicht nicht unseren Kindern gegenüber [...].»

 

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Go Go Goa

Die einzige Straße aus dem Ort hinaus, an der hinduistischen Totenverbrennungsstätte vorbei (die Fremde irrtümlich gerne für einen Barbecue-Grillplatz halten), dann rechts abbiegen, die Dünen hochstapfen, und oben ist das Ziel schon erreicht: die Strandhütte am Candolim Beach im indischen Goa.

Die Bude hat eine überdachte Veranda; ein paar Tische und Stühle stehen mitten im Sand, also: keine Pumps! Reggae-Musik von mittags bis nachts, viel Bob Marley. Immer eine Temperatur von 35 bis 40 Grad. Abends vertreten sich heilige Kühe im flachen Wasser die Beine und kühlen sich die Waden. Wahrscheinlich die kitschigsten Sonnenuntergänge der Welt, wie sie selbst Hollywood niemals hinbekäme. Nie.

In der Strandhütte wird immerzu Fisch gebrutzelt, der köstlichste heißt Pomfrit, was bei den Touristen oft zu Mißverständnissen führt. Und man trinkt Fenny, einen aus Cashew-Nüssen destillierten Schnaps, der, im Flachmann serviert, wie Brackwasser riecht — und auch so schmeckt. Fenny jedoch macht lustig (und manchmal blind).

Man muß viel Fenny trinken und darf den Joint nie ausgehen lassen, um den Gedanken ertragen zu können, daß es den Ozean immer noch geben wird, wenn wir schon längst nicht mehr sind und nie gewesen sein werden.

 

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Charme

Eines der größten Mysterien in dieser Vernunftzeit ist das Phänomen »Charme«. Wir gebrauchen den Begriff in all seinen sprachlichen Erscheinungsformen ziemlich gedankenlos, aber höchst bewundernd oder sehnsuchtsvoll, wie es scheint - als ob es um eine Adelung ginge oder zumindest um eine Ordensverleihung besserer Klasse. Was ist Charme? Laut Wörterbuch hat man darunter ein »bezauberndes, gewinnendes Wesen« zu verstehen. Etymologisch lässt sich »Charme« herleiten vom lateinischen »carmen«, und dieses Wort bedeutet nicht nur »Gesang, Lied, Gedicht«, sondern auch »Zauberspruch, Zauberformel«.

Also: Simsalabim!

Eine Sie oder ein Er »hat viel Charme«, »besitzt hinreißenden Charme«, der manchmal sogar »ererbt« ist (von einem geheimen Nummernkonto der Ahnen: steuerfrei). Dieser »eigene, persönliche« Charme ist ein Kapital, denn er »gewinnt alle«, weil er »so liebenswürdig, unwiderstehlich, verführerisch« ist und im schlimmsten Fall »natürlich«.


Dabei handelt es sich keineswegs nur um den berüchtigten »diskreten Charme der Bourgeoisie«, die ihn »lässig ausstrahlt«, »gepaart mit Chic« und »voller Eleganz«. Oscar Wilde meinte, in seinen besseren Zeiten: »Alle charmanten Leute sind ver­wöhnt, darin liegt das Geheimnis ihrer Anziehungskraft.«


Es gibt aber auch Personen, die »nicht ohne« Charme sind, von denen »ein gewisser« Charme ausgeht, und die müssen gar nicht erst ihren »ganzen Charme spielen lassen, entwickeln, aufbieten«. Einem solchen Charme kann man ebenso »erliegen«, wenn nicht sogar »verfallen«.   Diesen Reiz üben nicht nur Menschen aus. Auch Städte und Landschaften »entzücken« mit ihrem Charme: Wien, zum Beispiel, das auf Charme geradezu abonniert ist, oder Paris, das traditionell sowieso Charme hat, von der Toskana ganz zu schweigen. Dagegen hat Gelsenkirchen es schwer.


Einer, der Charme »verströmt«, wird Charmeur genannt. Das ist ein »Mann, der die Frauen durch sein gewinnendes Wesen für sich einzunehmen versteht«, laut Wörterbuch (für das die Welt heterosexuell noch in Ordnung ist).


Besonders hüte man sich vor den »ausgesprochenen« Charmeuren, die schon als solche bekannt sind: gern werden sie auch als »Charmebolzen« bezeichnet, wenn sie »charmant plaudern« können und sich auch sonst »von ihrer charmanten Seite« zeigen. Kommen sie in die Jahre, gelten sie bestenfalls als »alte Charmeure« oder verzehren ihr Gnadenbrot als »charmante Großväter«.


Nicht gerade sehr charmant geht die Sprache, gehen ihre Erfinder und Benutzer mit dem weiblichen Pendant des Charmeurs um. Als »Charmeuse« bezeichnet man »maschinenfeste Wirkware aus Kunstseide oder synthetischen Fasern«, aus der Unterwäsche hergestellt wird: Dessous. So sieht also die Reverenz vor der Frau aus, der wir - mutmaßlich - das Wort »charmant« verdanken. Aber sie ist ja auch eine Mann-Phantasie.


1696 erschien Christian Reuters abenteuerlicher »Schelmuffsky«-Roman, in dem der Titelheld für eine »Dame Charmante« entflammt, und die ist eine ziemlich lockere Lose, um nicht zu sagen: schockcharmant.

So hat Grimms Wörterbuch für »charmant« und »charmieren« auch nur spärliche sechs Zeilen übrig: dort ist »die charmante, die geliebte«; und auch Zitatbeispiele wie »charmante Seele« oder »er hat ihr einen charmanten Brief geschrieben« richten ja wohl kaum Unheil an.

Etwas skandalöser erscheint da schon die eigenwillige Charme-Vorstellung Arthur Schopenhauers: »A.: Wissen Sie schon das Neueste? B.: Nein, was ist passiert? A.: Die Welt ist erlöst! B.: Was Sie sagen! A.: Ja, der Liebe Gott hat Menschengestalt angenommen und sich in Jerusalem hinrichten lassen: dadurch ist nun die Welt erlöst und der Teufel geprellt. B.: Ei, das ist ja ganz scharmant.«


Vorsicht, Charme! Er ist etwas sehr, sehr Suspektes. Die Filmschauspielerin Cathérine Deneuve, die nicht nur schön ist, sondern anscheinend auch gescheit, befand: »Charme und Perfektion vertragen sich schlecht miteinander. Charme setzt kleine Fehler voraus, die man verdecken möchte.« Diese Erkenntnis ließe sich mit einem ähnlichen Bonmot konkretisieren: »Charme ist jene Gabe, die andere vergessen lässt, dass man aus dem Munde riecht.«

So scheint Charme (auf den solipsistische Eremiten sicher gern pfeifen) eigentlich nie interesselos und zweckfrei zu sein: Wenn jemand »alle Register seines Charmes zieht«, dann müssten im Grunde rote Warnlichter aufblinken und sämtliche Sturmglocken läuten, bevor wieder ein verhextes Opfer — im Büro oder im Schlafzimmer- aufs Kreuz gelegt wird und auf der Strecke bleibt. Charme kennt kein fair play. Nach Spinnenart »wickelt er ein«. Curt Goetz: »Ob die Liebe ein Glück ist? Jedenfalls ist sie das charmanteste Unglück, das uns zustoßen kann.« Na ja, immerhin.

Charme hat etwas mit unseliger Operettenseligkeit zu tun: »Ich küsse Ihre Hand, Madame ...« - fehlt nur noch Johannes Heesters im Frack. Der polnische Dichter Witold Gombrowicz möchte uns mit seinem bösartigen Theaterstück »Operette« dieselbe austreiben. Eine der Hauptfiguren heißt »Graf Charme«. Der ist sehr anachronistisch und dekadent. Man liebt ihn auf der Stelle.

Deshalb sollte Max Frisch nicht so säuerlich tönen: »Charme zur Haltung gemacht, ist etwas Fürchterliches. Waffenstillstand mit der eigenen Lüge.« Klar: Lüge. Natürlich alles Lüge.


Aber Hauptsache, sie ist charmant.

 

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Trilogie des Zweifels




George Grosz   Martin Kippenberger   Klaus Staeck


Do it yourself!>



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Wenn der Postmann nicht mehr zweimal klingelt oder Die Papierzunge des Zauberdrachens

Etwas zum Fax & Faxen

Eine Anekdote: Der stolze Neubesitzer eines Telefaxgerätes erprobt den Apparat zum erstenmal, und beim Empfänger kommt ein und dasselbe Jungfernfax zehnmal, fünfzehnmal an. Beim zwanzigstenmal telephoniert der genervte Adressat mit dem Absender, um den Grund für die unendliche Geschichte zu erfahren, und kriegt zu hören: «Mein Faxgerät muß defekt sein, das Blatt kommt bei mir aus dem Ding immer wieder heraus ...»

Aller Faxanfang ist schwer — unkt ein Faxgerätehersteller in seinem Werbeprospekt. Wohl wahr; auch wenn das Faxen selbst später dann kinderleicht ist.

Mein Faxgerät kam als Geschenk ins Haus; zwar funktionierte ‹das Ding›, nachdem es ans Telephon- und Stromnetz angeschlossen war, problemlos, aber leider fehlte die Gebrauchsanweisung, die unentbehrlich ist für die Programmierung der Kennung (Name und Anschlußnummer des Absenders, Datum und Uhrzeit), denn fast jedes Modell hat seine ungenormten Extravaganzen. Über die Faxgerätezulassungstelle der Deutschen Telekom in Saarbrücken ließ sich der Importeur des Irgendwo-made-in-Asia-Gerätes erfragen, der auch prompt 2 Meter Bedienungsanleitung — wie anders — faxte: Glückseligkeit — das erste eigene empfangene Fax!

Jedoch auch mit Gebrauchsanweisung stellt die Programmierung der Kennung den Intelligenzquotienten auf eine harte Bewährungsprobe: eine Stunde Lebenszeit sollte man dafür schon einkalkulieren — ich kenne sogar Leute, die brauchten dafür etliche verzweifelte Stunden, ja, Wochen, Monate! Nur ein genialer Irrsinniger kann sich den Programmiermodus ausgedacht haben — Genie und Wahnsinn logieren immer noch unter demselben Dach.

Nun gehöre ich also auch zur glücklichen Faxgemeinde in Deutschland. Faxten hierzulande 1983 nur 13.200 Avantgardisten, so waren es 1993 bereits 1,32 Millionen, eine Verhundertfachung!

Und wir werden jeden Monat 20.000 mehr, inzwischen dürfte längst die 1,5-Millionen-Grenze überschritten sein. Laut Telekom werden jährlich rund drei Milliarden DIN-A-4-Seiten durch die deutschen Leitungen gejagt, jeder Anschluß kommt — statistisch gesehen — auf rund 2.000 Blatt. Aber immer noch muß die traditionelle Briefpost jährlich an die 16 Milliarden Sendungen befördern.

Mein Telefax-Zauberkasten hat die Größe einer Reiseschreibmaschine und wiegt etwa drei Kilo, das Gehäuse ist schwarz. Nur fünf Tasten hat das Gerät und sieben Funktionsblinklichter. Mit der ersten Taste entscheidet man, ob die sogenannte Faxweiche automatisch aktiviert werden soll, wenn über dieselbe Leitung ein Telephonat oder ein Fax ankommt; mit der zweiten Taste kann man bei verminderter Übertragungsgeschwindigkeit die Übermittlungsqualität, etwa bei graphischen Darstellungen, optimieren; mit der dritten Taste läßt sich für den Hausgebrauch photokopieren. Wenn man mit der Rückseite nach oben ein Blatt in den schmalen Schlitz eingelegt hat — und nur Freudianer haben abwegige Assoziationen —, druckt man den daumengroßen grünen Trapezknopf — und ab geht die Post! Eine warnrote dreieckige Stoptaste für den Fall, daß das Alarmlicht blinkt und ein klagendes Piepsen ertönt — dann ist die Leitung zum Empfänger nicht zustande gekommen, oder die Rolle mit dem eigenen Faxpapier ist mal wieder zu Ende.

Natürlich gibt es wesentlich elegantere (und also teurere) Faxgeräte als meins, die haben ein chices Display, in dem die gewählte Empfängernummer ablesbar ist, haben ein integriertes Telephon, was außer im Büro kaum überbietbar unpraktisch ist, wie man hämisch feststellen muß: nur ein Büromensch läßt sich fesseln. Aber einen unbestreitbaren Vorteil besitzen Luxus-Faxgeräte (ab ca. 1.200 Mark) schon: sie funktionieren mit Normalpapier per Tintenstrahl- oder Laserdrucker und nicht mit diesem ekelhaften fludderigen Thermopapier von der Rolle per Hitzedruck, das sich so zombiehaft anfühlt, bei dessen Berührung jeder Ästhet Krätze kriegt, auf dem die Schrift so rasch verbleicht und das höchst umweltschädlich ist. Der Schweizer Schriftsteller Matthias Zschokke: «Ein Fax ist unter unserem ästhetischen Niveau: es hat nichts zu tun mit rahmengenähten Lederschuhen, English Lavender, Seidenunterhosen usw. — es ist schäbigste Fast-Food-Korrespondenz!»

Der interessierte Laie möchte selbstverständlich wissen, wie das Telefaxen technisch funktioniert. Ich auch. Da schreibt man am besten doch bei der Deutschen Telekom ab: «Das Telefax-Gerät wandelt Ihre Schrift- oder Bildvorlage fotoelektronisch in Rasterpunkte um, die als elektrische Signale übertragen werden. Das Empfangsgerät kehrt den ganzen Vorgang wieder um, und der Empfänger erhält eine originalgetreue Kopie, ein fernkopiertes ‹Faksimile›.»

Eine wunderbare Erklärung, so knapp und einleuchtend, daß sie auch 80jährige Mütter begreifen. Und als ein vom altsprachlichen Gymnasium Gebeutelter füge ich noch hinzu: tele, aus dem Griechischen, heißt soviel wie fern (Television, Telegraphie, Telepathie), und fac simile, aus dem Lateinischen, bedeutet mache ähnlich!

Aber trotzdem weiß ich immer noch nicht (auch wenn mir durchaus klar ist, daß Faxbotschaften nicht geschreddert auf die Reise gehen), wie die winzige Frau in mein Faxgerät hineingekommen ist, die mit quäkender Stimme plärrt: Bitte warten Sie! Ihr Anruf wird weitergeschaltet! Möchten Sie ein Fax senden, drücken Sie jetzt die START-Taste!

Ich mache kein Hehl daraus, daß ich das Telefaxen für eine der wunderbarsten Erfindungen der Menschheit halte, vergleichbar mit technischen Innovationen wie Glühbirne, Telefon, Rundfunk, Fernsehen, Ton- und Bildaufzeichnung. Auch mit dem Telefaxen vergewissern wir uns, daß wir nicht mehr auf den Bäumen sitzen (auch wenn es manchmal doch noch diesen Anschein hat: auf den modernen Schlachtfeldern).

Es ist kaum bekannt, daß die Anfänge des Telefaxens bis tief ins 19. Jahrundert reichen, bis in die Urzeit des Industriezeitalters, dessen technischer Visionär poetisch Jules Verne war.

Die Gelehrten sind sich uneins, wer denn nun der wahre Erfinder ist. Die Telekom nennt in ihren Unterrichtsblättern für den Nachwuchs den Engländer Frederic Collier Bakewell, der 1847 erste Übertragungsversuche mit «Copiertelegraphen» zwischen London und Slough unternahm. Das britische Fernsehen hingegen favorisierte den Schotten Alexander Bain, der sich 1843 ein elektromagnetisches Gerät patentieren ließ, dessen bewegliche Teile aus Rinderknochen bestanden, das jedoch erst 23 Jahre später zwischen Paris und Lyon ausprobiert wurde. Der sogenannte Pantélégraphe arbeitete mit beschichtetem Eisenblech statt Papier und war schneckenlangsam, so daß er mit dem Telegraphen von Samuel Morse nicht konkurrieren konnte. Immerhin inspirierte er den Spiegel noch 150 Jahre später zu der Titelei «Fax mit Knochen».

1869 präsentierte der Franzose Gyot d'Arlingcourt einen «Copiertelegraphen», der folgendermaßen funktionierte: «Das zu übermittelnde ‹Telegramm› wurde mit nichtleitendem Firnis (Lack) auf eine Metallfolie geschrieben oder in eine lacküberzogene Folie eingekratzt, auf eine drehende Trommel aufgespannt und von einem Abtastgriffel, der ... längs der Trommel bewegt wurde, abgetastet. An der Empfangsstation wurde ein mit blausaurem Kalium getränkter und mit verdünnter Salzsäure befeuchteten — und damit leitender — Papierbogen auf die Walze aufgespannt und der Abtastgriffel entlang der rotierenden Trommel bewegt. Durch elektrolytischen Stromdurchflug wurde das Aufzeichnungspapier eingefärbt.»

In Deutschland taten sich — erst Anfang dieses Jahrhunderts — die beiden Physiker Arthur Korn und August Karolus bei der Entwicklung des Telefaxens hervor; 1928 war erstmals das «Wetterfax» des Dr. Bodo Hell aus Kiel im Einsatz («Hellschreiber»), 1929 wurde ein «öffentlicher Bildtelegraphendienst» eingeführt. Und am 1. Januar 1979 begann in Westdeutschland die Einführung des Telefaxdienstes und wurde in Frankfurt am Main ein Telefax-Test-Center eingerichtet — das Kind ist also noch nicht einmal volljährig, hat sich inzwischen aber zu einem Riesenbaby ausgewachsen, obwohl die technische Entwicklung von der deutschen Industrie verschlafen und Japan überlassen wurde.

Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die ‹Gelbe Post› in Deutschland von der Papierzunge des Zauberdrachens verschlungen sein wird. Momentan stehen in Postdiensten 100.000 Briefzusteller, die jährliche Personalkosten von (vorsichtig geschätzt mindestens fünf Milliarden DM verursachen; insgesamt dürften die Aufwendungen für Briefbeförderung im zweistelligen Milliarden-DM-Bereich liegen. Es ist absehbar, daß sie in naher Zukunft nicht mehr rentabel sein wird, wenn nicht horrende Porti verlangt werden.

Wirtschaftlicher lassen sich die 35 Millionen bundesdeutschen Haushalte mit Schriftpost via Telefax versorgen (31 Millionen Telefonanschlüsse sind bereits verfügbar). Selbst wenn die Telekom, die dann die klassische Post-Aufgabe übernähme, jedem Haushalt im Lande ein Faxgerät kostenlos (oder gegen Kostenbeteiligung) zur Verfügung stellte, hätte sich eine solche Investition binnen kurzem amortisiert, wenn man bedenkt, daß es schon jetzt ein ‹Volks›-Faxgerät bei der Firma Saturn zum absoluten Dumping-Preis von 220 Mark(!) gab, wobei sich dieser Preis bei massenhafter Verbreitung gewiß noch um mehr als die Hälfte reduzieren ließe. Dann würden die gesamten Investitionskosten nicht einmal zehn Milliarden DM betragen. Längst ist das Faxgerät kein Luxusgegenstand mehr für Priviligierte, sondern bereits heute fast Gebrauchs- und Wegwerfartikel wie CD-Player, Kaffeemaschinen oder Staubsauger. Es lebe der Faxismus!

Schon jetzt ist die Übermittlung eines Briefes per Telefax billiger als auf traditionellem Weg: eine DIN-A-4-Seite, in den entferntesten Winkel der Republik gefaxt, wofür die gängigen Faxgeräte mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 9600 Baud/sec. ungefähr eine Minute brauchen, kostet ab 1996 tagsüber fünf oder sechs Telefongebühreneinheiten, also 62 – 70 Pfennig, zum Billigtarif nachts sogar nur 12 – 36 Pfennig. Noch günstiger sieht es im Ortsnetz aus: für nur zwei Gebühreneinheiten lassen sich zum Normaltarif etwa drei Seiten faxen, zum Billigtarif für 12 Pfennig vier Seiten, was an Porto zwei Mark kosten würde. Und — momentan noch sehr teure — Faxgeräte der jüngsten Generation schaffen bereits die Übermittlung einer Seite in zehn Sekunden. Trotz der Geschwindigkeitshexerei macht die Deutsche Telekom satte Gewinne beim Faxen, und sie wären immens, jagte sie die Briefbeförderung ihrer unbeliebten Schwester Deutsche Post AG gänzlich ab, die dann aufs Frachtpost-Volumen einschrumpfte, unternehmerisch verschlankt von gegenwärtig 28,6 Milliarden Umsatz auf zur Zeit 4 Milliarden. Oder aber freie private Unternehmen bieten diese Dienstleistung an — ist die Deutsche Post ein Auslaufmodell? Ohne Frage: in ihrer jetzigen Struktur bestimmt.

Und keine Angst: auch das Faxgeheimnis soll wasserdicht werden wie das Briefgeheimnis. Jüngst präsentierte die Firma Siemens ein Zusatzmodul für Faxgeräte: mittels einer Chipkarte wird die Übermittlung des Faxes verschlüsselt, so daß kein Unbefugter die Leitung anzapfen und mitlesen kann.

Und im Büro und im familiären Bereich lassen sich eingehende Faxe speichern und erst durch ein Paßwort des befugten Empfängers abrufen. Auch das schon heute vielfach praktizierte papierlose Faxen von Computer zu Computer läßt Diskretion walten.

Rechtlich sind noch nicht alle Fax-Probleme gelöst. Zwar kann kann man per Fax rechtsverbindlich Kaufverträge abschließen oder Warenbestellungen vornehmen, aber wenn das Gesetz die Schriftform vorschreibt, muß ‹die Urkunde› nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch ‹eigenhändig› unterschrieben sein, reicht die Kopie der Unterschrift nicht aus, etwa bei Bürgschaftserklärungen, Vollmachtserteilungen etc. Auch bei einen Mahnbescheidsantrag muß das amtliche Formular im Original eingereicht werden (ein milder Trost; dasselbe sollte künftig, wenn der Faxismus monopolisiert ist, auch für Parkstrafzettel, diese gräßlichen ‹Knöllchen›, gelten). Und wichtig zu wissen noch: Als Beweismittel vor Gericht reicht das Sendejournal mit Datum, Faxnummer des Empfängers und technischem ‹OK›-Vermerk nicht aus, da sich eine solche ‹Quittung› leicht manipulieren läßt.

Die Abschaffung der traditionellen Briefpost hätte ein paar kuriose Nebenwirkungen: für Philatelisten gäbe es keine deutschen Briefmarken mehr zu sammeln (Paketpost wird ja nicht frankiert, sondern direkt am Schalter bezahlt), aber tränenüberströmte Sammelwütige könnten ja auf dann einzuführende Paketmarken, auf Telephonkarten oder Kaffeesahnedeckel umsteigen, um größere psychische Schäden zu vermeiden; und kläffende bißfreudige Köter müßten sich andere Waden als die der Briefträger suchen; auch werden die Beine der deutschen Menschheit schrumpfen, wenn der elastizierende Fitneß-Gang zum Briefkasten oder zur Post entfällt; und es gibt keine in Büchern veröffentlichten Briefwechsel von Dichtern mehr, denn wer will schon Gesammelte Faxe lesen? Aber als Ausgleich gibt es inzwischen ja bereits eine Fax-KUNST.

Ein Sonderproblem stellt die allseits so beliebte Postkarte dar. Da muß noch die flexible einseitige Faxkarte erfunden werden. Warum nicht? Wenn man eines Tages auch allgemein in Farbe faxen können wird (die Technik existiert bereits) ... — natürlich wird es in jedem besseren Hotel der zivilisierten Welt einen Faxautomaten geben! Tante Waltraut in der Heimat braucht einen Gruß ihrer Lieben nicht zu entbehren!

Man muß also kein großer Prophet sein, um fürs 21. Jahrhundert das Ende des traditionellen Briefverkehrs vorauszusagen. Der Postmann wird nicht mehr zweimal klingeln, wie ja auch die transzendentale Herkunft der Postboten, der einst als angelos vom Himmel fiel, längst anachronistisch ist, in entgotteten Zeiten. Den Platz der Metaphysik hat triumphierend die ‹Elektrophysik› übernommen (mein Faxgerät hat den ingeniösen Transit-Namen TELESUS).

Die Wirtschaft hat die Vorzüge des Faxens für die geschäftliche Kommunikation auf Anhieb erkannt und realisiert. Auch aus dem Pressewesen ist das Faxen intern nicht mehr wegzudenken (hochsensible Redakteure in kulturellen Elfenbeintürmchen allerdings murren noch — aber schon leiser). Andererseits bietet seit Oktober 1995 die Süddeutsche Zeitung in Zusammnarbeit mit der Financial Times einen Wirtschaftsdienst per Fax an: «SZ-Finanz» heißt das elektronische Medium, das über Finanzmarkt-Ereignisse, die erst spätabends oder nachts bekannt werden, brandaktuell informiert.

Es braucht noch etwas Zeit, bis auch traditionalistische Individualisten die Vorteile des Faxens erkennen und sich von ihm nicht mehr bloß in ihrer privaten Ruhe gestört fühlen (das war bei der Einführung des Telefons nicht anders). Selbst ein wertkonservativer Schöngeist wie der bereits oben zitierte Autor Matthias Zschokke mußte schließlich einräumen. — «... habe mich an das Gerät gewöhnt und es angenommen (es ging mir wie Katzen, die sich erst bis aufs Blut bekämpfen — und irgendwann nehmen sie sich an und lieben sich bis ans Lebensende).»

Faxen ist auch ein demokratisches Medium: Rundfunk und Fernsehen haben das längst erkannt, indem sie Meinungen ihrer meist jüngeren Klientel per Fax abfragen; ebenso läßt sich einen unfähigen Politiker mit einem Fax kurz und bündig der Marsch blasen; und als Verbraucher kann man dem Hersteller stante pede den Unmut über ein miserables Produkt ins Auftragsbuch schreiben («Ihr matschiger versalzener Thunfisch aus Ecuador kann mit dem knackigen aus Indonesien in keiner Weise konkurrieren!») — alles Aktionen, für die ein Telephonat zu intim und ein postalischer Brief zu aufwendig wäre.

In seinem Buch Die Schrift (Frankfurt am Main 1992) handelt der Kulturphilosoph und Zukunftsforscher Vilém Flusser im 13. Kapitel über das Phänomen Briefe, analysiert luzide und mit kritischer Sorge die radikalen Umwälzungen, die in diesem Bereich der Kommunikation auf uns zukommen werden:

«Netze, die sich nicht mehr auf die Erde stützen müssen, sondern die stützenlos in Feldern schwingen, sind Träger intersubjektiver Botschaften geworden. Die Festlichkeit und das Geheimnis des Briefeschreibens lösen sich auf. Die existentielle Einstellung des Wartens, des Abwartens, des Erwartens ist angesichts der kosmischen Simultaneität der elektromagnetisch übertragenen Botschaft überflüssig geworden. Hoffen ist nicht mehr Erwarten, es ist Überraschtwerden geworden. Es hat allen Sinn verloren, Briefe zu schreiben. ... Die Kunst des Briefeschreibens verlernen wir, während wir die neue Kunst der Intersubjektivität, die Computerkunst, noch nicht gelernt haben. Man entzieht uns den Brief (wobei dieses ‹man› gesichtslos ist, aber verschiedene Masken trägt), und wir fallen in die bezugslose Masse; gleichwohl erahnen wir, daß die Massenmedien sich in intersubjektive, briefartige Medien zu verzweigen beginnen. Nur diese dumpfe Ahnung, für die das Wort Hoffnung zu stark ist, erlaubt uns, dem Untergang der Briefe und der Post entgegenzusehen.»

(Der Aufsatz erschien 1996; rasanter technischer Fortschritt: in der Zwischenzeit ist das Fax längst verdrängt worden von der E-Mail.)



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Teatime auf Madeira

Lange schon wollte ich nach Madeira. Untrüglicher Beweis: ein wieder gefundener Polyglott-Reiseführer von 1976, in dem Gustaf Gründgens, der sich während seiner letzten Lebensjahre in die Insel verliebte, mit dem ultimativen Satz zitiert wird: „Hier ist es wunderbar!“.

Aber ich bin immer wieder an Madeira vorbei geflogen und lieber auf den Islas Canarias ausgestiegen. Und kam nun immer noch mit Verfrühung zur Unzeit auf Madeira an: meine Mitreisenden im Flieger fast alle rüstige Senioren im späten Pensionsalter und etliche so betagt, dass sie schon mit der „KdF“-Flotte  Madeira hätten besucht haben können.

Auch das touristische Restpublikum der Insel (außer Deutschen hauptsächlich Skandinavier, Engländer und Niederländer) wandelt im Lebensabendglanz. Bei der Ankunft regnet es cats and dogs (wohl eines der berühmt-berüchtigten Azorentiefs), und dabei bleibt es auch in den nächsten Tagen (was den Umsatz der Schirmverkäufer in den Straßen der Hauptstadt Funchal in astronomische Höhen treibt). Nicht grundlos eben grünt und blüht es überall dämonisch auf der Insel, die eine wahre Fruchtbarkeitshölle ist.

Aber das soll mich nicht weiter stören, denn ich bin ja nur aus einem einzigen Grund nach Madeira gereist: zum Teetrinken auf der legendären Teeterrasse des 1891 eröffneten “Reid’s Palace”, einem der “Leading Hotels of the World”, das auf einer Landzunge am Stadtrand von Funchal liegt. Der Freilufttee wird täglich von 15-18 Uhr serviert.

Man durchquert auf dickem Teppichboden die mit zahllosen Polstermöbeln ausgestattete Lounge (die jedem Staubsaugervertreter glänzende Augen bescheren dürfte und jeder Hausfrau Alpträume) und gelangt zur hohen Terrassentür, vor der Nelson, ein smarter Anfangdreißiger, den Gast in tadellosem Deutsch (er hat eine Zeitlang in der Wiesbadener “Ente im Lehel” gearbeitet) begrüßt: “Haben Sie reserviert?” Ich habe (es ist hier durchaus nichts Ungewöhnliches, seine Teatime per Fax oder Telefon eine Woche im voraus zu disponieren, der großen Nachfrage wegen; Hausgäste genießen selbstverständlich immer Vorrang), und der Maître de thé geleitet mich auf dem schwarzweißen Schachbrettboden zu einem der Tische. Von denen gibt es variabel etwa zwanzig, alle weiß gedeckt. Dazu gehören Korbsessel (mit Polsterauflage) für ungefähr 8o Personen, die auch jetzt anwesend sind. Die Terrasse ist sanft gerundet, ihre Brüstung bildet eine Arkade mit halbhohem Gitterstäben zwischen den einzelnen Pfeilern, damit niemand in den Palmengarten hinunterfällt.

Der Maître de thé selbst überreicht dem Gast die edle Tee-Karte. Ich kann wählen zwischen Earl Grey, Darjeeling, Ceylon, English Breakfast, Jasmine, Reid’s Blend und entscheide mich aus Neugier für die Hausmischung (“Ein leichter. aber voll abgerundeter Tee im Geschmack, passend zujeder Tageszeit”). Für empfindliche Mägen stehen auch Kräutertees zur Verfügung und für moderne Banausen sogar Espresso und Cappuccino.

Ein Kellner in weißem Jackett mit vergoldeten Knöpfen serviert. Selbstverständlich ist das Geschirr erlesenes Wedgwood. Zur Kanne Tee (3-4 Tassen) gehören Sahne und verschiedene Zuckersorten, die barbarische Zitrone fehlt. Naturgemäß mundet der Tee köstlich an einem Ort, wo man ihn nicht vulgär trinkt, sondern nimmt.

Den Tee begleitet eine dreistöckige Etagere: im obersten Stockwerk Näpfchen mit Butter und Schlagsahne, ein Gläschen mit Schwarzem-Johannisbeer-Gelee (leider nicht hausgemacht, sondern aus industrieller Produktion), im mittleren vier Fingersandwiches mit hauchdünnem Lachs, mit hauchdünner Gurke, mit hauchdünnem Käse oder hauchdünnem Fleisch, jeweils von der Größe eines halben Männerdaumens und bereits kronenfreundlich entrindet, im Parterre drei kinderfaustgroße (leider etwas unsaftige) Küchelchen mit Mandel- und Schokoladengeschmack. Als Extra wird mit der silbernen Gebäckzange ein frisches ofenwarmes Rosinenmilchbrötchen gereicht. Teatime auf Madeira. Eine lebenslang unvergeßliche Performance für schlappe 2o Euro pro Person.

In der Lounge spielt dazu ein dezenter Pianist ein Potpourri aus Welthits der siebziger Jahre (oder früher). Ach, lieber Hotelpianist sein im “Reid’s” auf Madeira als Musiklehrer in Gelsenkirchen oder in... Ein Handy bimmelt, und Nelson bringt es mit einem indignierten Blick zum Verstummen.
Und tatsächlich wagt es eine vierköpfige Teegesellschaft am Tisch gegenüber, sich zu fotografieren (und sogar mit Blitzlicht!)- touristischer Pöbel. Immerhin stürzt er nicht zum Drachenfels-Fernrohr, das sich für diese Terrasse nur ein wahnsinniger Hotelbuchhalter ausgedacht haben kann: lächerliche Münz-Peanuts bringt ein Blick auf den Atlantik ein, wo es nichts zu sehen gibt- still ruht der Große Teich, keine turtelnde Lady Di oder Sensationen ähnlichen Kalibers.

Ansonsten ist das elegant-leger gekleidete Publikum wohlgesittet: in der Mehrzahl Leute, die “es geschafft haben”; kein Kindergebrüll, denn die eigene Brut, so vorhanden, ist längst erwachsen. Die Gäste sehen nicht erschöpft aus von Arbeit oder den hier so beliebten exzessiven Inselwanderungen, bei Wind und Wetter im wasserdichten Anorak, oder gar von langen Spielcasinonächten. “Industrielle und viel Adel”, raunt mir später Nelson zu, als ich versuche, ihn auszuhorchen. Namen nennt er natürlich nicht. Ganz normale Voyageure: Ehepaare, zum Beispiel, die sich nichts mehr zu sagen haben. Sie liest Stephen King, er Zeitung.

Ein Damenkränzchen war zu Besuch beim letzten österreichischen Kaiser, der in einer schäbigen Exilkiste in der armseligen Kirche des Bergdorfes Monte modert- aber wenigstens mit grandiosem Meerblick. Talwärts fuhr man mit den traditionellen Korbschlitten, gelenkt von ruppigen Gesellen, schmuddelig weiß gewandet, auf dem Kopf ein Strohhut, Modell Kreissäge.

In der Ecke der Terrasse ein griesgrämiger Herr mit Embonpoint. Warum hat er so schlechte Laune? Denkt er etwa an die weltschlechteste Pizza im Yachthafen von Funchal? Oder an andere Teller-Frugalitäten? Essen und Trinken auf Madeira außerhalb der Nobelhotels würden Wolfram Siebeck wöchentlich mindestens drei Schlaganfälle bescheren (wo Engländer jemals -und sei es in grauer Vorzeit- einen Fuß hingesetzt haben, hinterlassen sie anscheinend eine kulinarische Wüste: links auf dem Teller fades insulares Mischgemüse, rechts undeliziös Fisch oder Fleisch; an den -meist- horriblen portugiesischen Weinen sind sie schuldlos. Und da es Sherry von Sandeman gibt, ist auch der Madeirawein höchst entbehrlich).

Ein japanisches Trio nimmt zur Teezeremonie an einem Balustradentisch Platz. Alle in Kenzo-Schwarz, die Dame sogar bodenlang; alle stumm und alle mit Leichenbittermiene. Ich freue mich auf ein Harakiri zur Abwechselung, aber es bleibt aus. Obwohl die Filmkulisse perfekt ist, gehen keine Scheinwerfer an, und kein Regisseur ruft: “Action, please!” Es fehlen die Stars. Winston Churchill, der des öfteren im “Reid’s” logierte, trinkt hier schon lange keinen Tee mehr. Wir Statisten bleiben unter uns.

 

 

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Châteauneuf-du-Pape

 

Wir, die Neugierigen dieser Welt, durften, dank Vatican TV, einen flüchtigen Blick in die Privatgemächer des neuen Pontifex werfen. Sie müssen vor seinem Einzug erst noch renoviert werden, da sie anscheinend arg verwohnt sind, nach einem Vierteljahrhundert JP II.     

Vielleicht hätte man die Wohnung nach dem Todesfall nicht versiegeln, sondern gleich mit der Renovierung beginnen sollen. Aber das hätte den neuen Bewohner um die Chance gebracht, selbst zu bestimmen, was etwa in Resedagrün oder Altrosa oder Himmelblau gestrichen werden soll. Benedikt XVI. als Innenarchitekt: Darf er sich das Mobiliar selbst aussuchen oder muss er sich mit dem polnischen Plunder arrangieren? Lässt er neue Bilder an die Wände hängen? Bei Kunstwerken hat er die Qual der Wahl.

In den Medien wurden bislang nur die eher unwesentlichen Fragen zum neuen Papst zerkaut (Kondom- und Abtreibungsverbot, Zölibat, Frauenpriesteramt, ökumenischer Schulterschluss), aber kaum jemand stellte die wirklich brennende Frage: Wie viel verdient eigentlich der neue Vorstandsvorsitzende des global agierenden Kirchenkonzerns? Mehr als die britische Königin? Mehr als Bush oder Schröder? Mehr als Jürgen Schrempp? Lohnt sich das denn überhaupt?

Als Kardinal war Herr R. Angestellter des Vatikans und erhielt monatlich ein krisenfestes Gehalt, das ihm vermutlich auf ein Konto der urigen Vatikan-Bank überwiesen wurde (nebenbei: der Kölner Kardinal Meissner ist Gehaltsempfänger des Landes NRW). Relativistisch gesehen, dürfte sich Herr R. nun als Chef einkommensmäßig erheblich verschlechtert haben: das geht jetzt schon in Richtung 1-Euro-Job. Unvorstellbar ein Papst mit Portemonnaie oder Brieftasche. Unser Schröder bezahlt beim Hundefriseur Udo Walz mit Kreditkarte.

Aber immerhin wird Herrn R. eine kostenlose Dienstwohnung (mit schönem Ausblick) gestellt (inkl. Strom, Wasser, Telefon und Müllabfuhr) plus Arbeitskleidung. Und etliches Personal. Und Freiflüge hat er auch. Nur: Aus welchem Topf bezahlt er eigentlich weltliche Restwünsche? Vielleicht eine Rolex? Oder eine HiFi-Anlage von Bang & Olufsen? Oder CDs aus den frommen Bach-Vivaldi-Mozart-Charts? Ist er etwa auf Sponsoren angewiesen? Schlimm genug, dass der Musikliebhaber sein wurmstichiges verstimmtes Klavier aus der alten Hütte herüberschleppen lassen muss und sich keinen nigelnagelneuen Steinway leisten kann.

Herr R. speiste als Kardinal schon mal gern in einem besseren römischen Ristorante. Dagegen ist nichts zu sagen. Nun steht er unter der strengen Knute hutzeliger Nönnchen, die mutmaßlich nur über ein karges monatliches Haushaltsgeld verfügen, das wahrscheinlich dem Lebenskostenindex angeglichen ist. Die Bewirtung auf der After-Election-Party war eher eine kleinbürgerliche Leibesversorgung und lässt Schmalhans ahnen: Bohnensuppe, Fleisch mit roten Rüben, Aufschnitt und Brot, Äpfel (obwohl symbolisch kontaminiert). Und als Clou (!): Eis und ein Glas Sekt. Kein Champagner. Himmel, gibt es denn keinen formidablen Catering Service in Rom?

Das ist falsche (und verlogene) Bescheidenheit. Selbstverständlich hat der etablierte Papst einen Sterne-Koch zu haben (trotz allen Hungers in der Welt). Nicht immer nur fette Gans und Wodka. Sollte der Lebensstil des neuen Papstes zu aufwendig werden, könnte Die Firma immer noch den Petersdom an einen arabischen Scheich verkaufen und für die Messen zurückleasen, nach dem Dortmunder Borussia-Modell.

Wie die Presse des englischen Erzfeindes enthüllte, raucht Herr R. gern („Puff Daddy“). Werden die gestrengen Nonnen nun die Stangen rationieren? Es darf nicht so weit kommen, dass der Papst aus Armut einen seiner jugendlichen Gläubigen anhaut: „Hast du mal ’ne Kippe, mein Sohn, meine Tochter?“

Zur Not muss der Ex-Großinquisitor wohl auf das eigene Vermögen aus seinem bürgerlich-klerikalen Vorleben zurückgreifen. Seine Buchhonorare dürften ihm eine erkleckliche Summe beschert haben. Sie sprudeln und fließen munter weiter, und jetzt erst recht: bei Amazon führt er die Bestsellerliste an, noch vor Harry Potter. Mit diesen Erlösen darf UNSER MANN IN ROM guten Gewissens privatisieren, wenn er Feierabend hat: kein Papstbier aus seinem Geburtsort Marktl, es darf dann auch schon mal eine bessere Flasche Châteauneuf-du-Pape aus dem Weinberg des Herrn sein, vorm Fernseher oder beim Internet-Surfen. Sogar im weißen Bademantel. Aber auch ein lila Armani-Cashmere-Pulli und eine schwarze Ermenegildo-Zegna-Hose wären zu Hause keine Todsünde, sondern nur schlichte praktische Eleganz. Man kann nicht 24 Stunden Papst im Fummel sein: das ist unmenschlich. Bekanntlich hat das Haus Burda beste Beziehungen zum Heiligen Stuhl, und so freuen wir uns auf die erste Homestory in der Bunten. Und wissen dann auch endlich, welche Zigarettenmarke der Papst raucht.

Die sentimentale Gläubigkeit seines Vorgängers hat Benedikt XVI. offenbar nicht zu bieten und will es als ausgewiesener Intellektueller wahrscheinlich auch gar nicht. Das ehrt ihn. Trotzdem sind seine bisherigen öffentlichen Auftritte handwerklich ordentlich gearbeitet. Er macht einen JOB- seinen Job. Er gibt den Papst. Er ist ein Papstdarsteller, quasi mit brechtschem Verfremdungseffekt. Auch als Papst bleibt er Herr Ratzinger. Das ist neu und modern in der römisch-katholischen Kirche. Darin ähnelt er dem sympathischen 14. Dalai Lama alias Tenzin Gyatso.

 

 

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Grenouille - das Nasenmonster
Irdische, himmlische und höllische Düfte





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Handy-Mania

Nur Dienstboten müssen immer erreichbar sein.

Johannes Gross

Zufällig schaue ich aus dem Fenster, und da steht schon wieder auf der Straße so einer (diesmal kein Kinderschänder), der sich ein sogenanntes Handy ans Ohr quetscht und aufgekratzt, mit irrem Blick, in dasselbe quasselt. Inzwischen sieht man ja auch immer mehr Leute, die das sogar beim Gehen tun — sie müssen sehr in Eile sein.

iPhone - die perfekteste Versuchung, seit es Handys gibt

Wenn ich Handy-Benutzer bloß sehe, steigt automatisch mein Adrenalinspiegel, und Haß würgt mich, den doch sonst so Milden, der ich zu Aggressionen doch sonst kaum fähig bin.
Woran mag das liegen? Daran, daß ich noch aus einer Zeit stamme, als gerade das Schnurtelephon erfunden und der erste segensreiche Satz — «Das Pferd frißt keinen Gurkensalat» — per Draht gekrächzt wurde? Bin ich bereits vergreist und neidisch nur, der neuen Zeit, der großen Handy-Zeit, hinterherzuhinken?

Nichts gegen das klassische Telephon, damit habe ich nicht die geringsten Probleme (außer mit der Rechnung). Und ich bin begeisterter Faxist. Warum aber wird ein Handy für mich niemals comme il fault sein? Die Gründe sind ästhetisch-ethischer Art!

Leute, die auf der Straße am Handy hängen, sollten sich einmal auf Video betrachten: dämlich und lächerlich sehen sie dabei aus, wie die Verwirrten, die im Selbstgespräch vor sich hinbrabbeln. Als ich jedoch kürzlich einer jungen Schönen, ganz en passant, pädagogisch wertvoll zuraunte: «Wenn Sie sich so selbst sehen könnten, würden sie nie wieder auf der Straße telephonieren!», giftete die bloß keifend zurück: «Verpiß dich, alter Sack!»
Nun zum Ethischen: Es zeugt nicht gerade von großer Rücksicht, seine Mitmenschen in Cafés, Restaurants, Theatern und Konzertsälen mit den Lockrufen eines Handys zu belästigen — zweifellos eine akustische Körperverletzung. Und dann wird man ja nicht nur — schlimm genug — Augenzeuge jener ästhetisch absurden, unzierlichen Handy-Handhabung, sondern auch noch Ohrenzeuge banalsten Geplappers.

Was für Menschen mögen das sein, diese Handy-Führer? Ein mir bekannter TV-Moderator gehört auch dazu. Beim Restaurantessen liegt das Handy immer neben seinen Tellern. Aber es klingelt, bimmelt oder schnarrt nie. Inzwischen gibt es Agenturen, die auf Bestellung anrufen. Vielleicht sollte der mittlerweile zahnlose TV-Tiger dort abonnieren?

Ende des Jahres wird es hierzulande fünf Millionen ‹Mobilfunk›-Anschlüsse geben. Es sind die VIP's der Republik: die Unentbehrlichen, unsere Leistungsträger, die immer erreichbar sein müssen, Tag und Nacht, an jedem Ort (Ja, sogar auf der Toilette! Und vielleicht beim ...?), die sich lustvoll an die (unsichtbare) Kette legen oder legen lassen. Und selbst auf die Gefahr hin, die ‹political correctness› zu sprengen: am beliebtesten ist das Handy anscheinend bei Türken.

Nieder mit dem Handy! Es geht die Mär, Telephonieren via Handy verursache vielleicht ... eventuell ... Gehirntumore: Wie fabelhaft das wäre! Bekanntlich läßt sich der Teufel am besten mit dem Beelzebub austreiben.

(Veröffentlicht 1996; der Autor besitzt auch 2009 noch kein Handy.)




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Ohne Kommentar




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ELISABETH ALEXANDER (1922-2009)









Wie Goethe in den Werbe-Agenturen verendete (& PAUL, geknickt):


EXQUISA-
Keiner schmeckt wie dieser!




ALMIGURTH von Ehrmann-
Keiner macht mich mehr an!



Man sollte die Werbefuzzys pfählen, rädern oder teeren & federn... auf jeden Fall: HÖCHSTSTRAFE!






Der eine pißt, der andere kackt           

Cacatum non est pictum, hingeschissen ist noch nicht gemalt, heißt es grob und richtig. Kaum jedoch hockt sich jemand zum Defäkieren hin, ist der Maler Philips Wouwerman (1616-1668) zur Stelle und hält die Situation fest. Und Wouwerman war eine Größe, er gehörte zu den hochgeschätzten Malern des Goldenen Zeitalters der niederländischen Kunst.

Der Schimmel von Philips Wouwerman

Sein wahrscheinlich bekanntestes Bild, "Der Schimmel" im Rijksmuseum Amsterdam, wird seit je bewundert für den Realismus, mit dem das Pferd gemalt ist. Pferde waren die große Stärke des Künstlers. Aber das Bild ist auch eine kleine Genreszene. Das Tier mit roter Satteldecke steht auf einem Weg, ein Kind hält es am Zügel und scheint das Wasser abzuschlagen. Der Reiter aber, ein älterer Mann, hockt hinter der Böschung und entleert sich.

Der Kalvarienberg von Philips Wouwerman

Den Höhepunkt der Schonungslosigkeit aber stellt das fast 140 Jahre verschollene Bild "Der Kalvarienberg" dar. Im Mittelgrund stehen die drei Kreuze vor dem blitzdurchzuckten Himmel. Vorn reiten die Offiziere, die die Hinrichtung kommandiert haben, auf ihren wohlgenährten Pferden zurück, auch der Zimmermann mit Beil und Weinflasche hat sich auf den Heimweg gemacht. Seitlich an einer Böschung aber, nicht sehr auffällig placiert und doch durch einen Pfad mit dem mittleren Kreuz verbunden, dem Kreuz Jesu, hockt ein Mann mit heruntergelassener Hose und scheißt.







In memoriam 100 Watt






Fünf häufige Sprachfehler:

 

Vorprogrammieren statt programmieren (= im voraus festlegen)

Aufoktroyieren statt oktroyieren (= aufzwingen)

Das Klientel statt  d i e  Klientel (der Wichtigtuer entpuppt sich als Banause)

Der Flair statt d a s Flair

Der Püree statt d a s Püree










Aber hallo!




14. September 2009, Neue Zürcher Zeitung

Was Bibliotheken lieber verschweigen

Es gibt Bucheinbände aus Menschenhaut

Das Englische kennt sogar eine Fachbezeichnung dafür: «anthropodermic bibliopegy». Die Praxis, Bücher in gegerbte Menschenhaut zu binden, hat es in früheren Jahrhunderten gegeben. Erzeugnisse dieses «Handwerks» finden sich noch immer in manchen Bibliotheken.

Robert Jütte                                                                                                                                    

1996 kam Peter Greenaways kunstvoller Film über Erotik, Kalligrafie und die Beziehung zwischen Schrift und Leib ins Kino. Nagiko, die schöne Tochter eines berühmten japanischen Kalligrafen, der sich von seinem homosexuellen Verleger missbrauchen lässt, trifft auf dessen englischen Geliebten Jerome, als sie selbst bereits der Faszination der Schönschrift erlegen und künstlerisch tätig ist. Sie schläft mit ihm, dann verziert sie seinen Körper mit kunstvollen Schriftzeichen. Dieses menschliche «Buch» übt auf den Verleger einen solchen Reiz aus, dass er nach Jeromes tragischem Tod die Leiche exhumieren und die Haut abziehen lässt, um daraus eine «Bettlektüre» zu fertigen. Das wiederum bringt Nagiko dazu, auf Rache zu sinnen.

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«Wie derbes Handschuhleder»

Die filmische Fiktion wird mitunter noch von der Wirklichkeit übertroffen. Im Jahr 2006 betitelte eine Schweizer Boulevardzeitung eine Meldung: «Dieser <Schmöker> hat Gänsehaut-Garantie». Hintergrund war, dass in der nordenglischen Stadt Leeds auf der Strasse ein offenbar in menschliche Haut eingebundenes Buch gefunden worden war, nach dessen Eigentümer die Polizei fahndete. Solche Bücher findet man heute normalerweise nicht auf der Strasse, dafür aber in nicht unbeträchtlicher Zahl in Bibliotheken in der ganzen Welt. Allerdings wird diese Tatsache von Bibliothekaren meist lieber verschwiegen. Man fürchtet einen öffentlichen Aufschrei, wenn dieses Faktum bekanntwerden sollte.

Dagegen wusste ein gebildeter Bürger noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Einbände aus Menschenhaut eine bibliophile Tradition haben. In «Meyers Grossem Konversation-Lexikon» (1908) kann man lesen: «Menschenhaut ist mehrfach zur Herstellung von Leder benutzt worden. In der Zittauer Ratsbibliothek befindet sich eine vollständige gegerbte M., die von einem Räuber stammt. Sie ist weiss und fühlt sich wie derbes Handschuhleder an.» Im Englischen gibt es sogar einen Fachausdruck für diese Buchbinderkunst: «anthropodermic bibliopegy».

Selbst in Buchbinderkreisen spricht man dieses Thema besser nicht an. Mitte der 1990er Jahre wollte der Sohn eines Gelsenkirchener Buchbinders einen Autor verklagen, weil dieser in einer ortsgeschichtlichen Darstellung behauptet hatte, dass dessen Vater in der NS-Zeit «echtes Niggerleder» verarbeitet habe. Der Streit kreiste darum, ob es sich dabei um Menschenhaut oder um in Afrika gegerbtes, recht haltbares, naturelles Ziegenleder mit natürlichen Narben (sogenanntes Nigerleder) handelte, wie es noch heute in der lederverarbeitenden Industrie verwendet wird. Hintergrund war, dass es immer wieder Gerüchte gegeben hat, die Nationalsozialisten hätten nicht nur Lampenschirme, sondern auch Bucheinbände aus der Haut von ermordeten KZ-Häftlingen hergestellt – ein Vorwurf, dem die seriöse Holocaust-Forschung immer mit Skepsis begegnet ist, wenngleich man weiss, dass KZ-Kommandanten Interesse an Präparaten hatten, die aus der Haut von Menschen gewonnen waren, die auffällige Tätowierungen aufwiesen.

Dass es aber in der Geschichte Terrorregime gab, die es zumindest duldeten, dass Menschenhaut zu Stiefeln oder auch zu Bucheinbänden verarbeitet wurde, zeigt ein Blick in die Geschichtsbücher. In seiner «Geschichte der Französischen Revolution» (1837 erschienen) berichtet der englische Historiker Thomas Carlyle im Abschnitt über die Phase des Thermidor, dass die Jakobiner auch vor dem Gerben von Menschenhaut nicht zurückgeschreckt seien. Das bereits zitierte deutsche Konversationslexikon nennt mehrere Beispiele: «Ein Rapport vom 20. Sept. 1794 berichtet von einem Fabrikanten in Meudon, der die Haut Guillotinierter zu Leder verarbeitete, und der Nationalkonvent unterstützte diese Industrie mit 45 000 Fr. Der Citoyen Egalité soll Hosen nur noch aus solchem Leder getragen haben. Nach Hyrtl (<Anatomie>) besass Granier de Cassagnac ein in M. gebundenes Exemplar der Konstitution von 1793.» Auf ein anderes Unrechtsregime spielt die Hautmetaphorik in einem Gedicht Heiner Müllers an: «In Leder gegerbt aus den Häuten der Schreiber / Halten wir unsere Häute intakt sagte Boris Djacenko / Damit unsre Bücher in haltbarem Einband / Überdauern die Zeit der beamteten Leser.»

Medizinischer Kontext

Nicht nur die Opfer politisch motivierter Morde mussten in der Vergangenheit die Enthäutung fürchten, auch Gewaltverbrecher traf gelegentlich ein solches Schicksal. Der spektakulärste Fall ereignete sich 1829 in Schottland. Damals wurde William Burke in Edinburg zum Tode verurteilt, weil er zusammen mit seinem Komplizen William Hare siebzehn Menschen ermordet und dann die Leichen an Anatomen verkauft hatte. Seine Totenmaske wird heute im Royal College of Surgeons of Edinburgh gezeigt, ebenso eine angeblich aus seiner Haut angefertigte Brieftasche.

Doch auch aus freiem Willen konnte jemand, wie ein deutsches Sprichwort lautet, «seine Haut zu Markte tragen». Das Resultat kann man heute in der Boston-Athenaeum-Bibliothek bestaunen. Dort befindet sich nämlich ein Buch, auf dessen Umschlag in lateinischen Lettern geschrieben ist: «Hic liber Waltonis cute compactus est» – «Dieses Buch von Walton ist gebunden in seiner eigenen Haut.» George Walton war Anfang der 1830er Jahre in den USA ein berühmt-berüchtigter Strassenräuber. Nur einmal stiess er offenbar bei seinen Taten auf energischen Widerstand eines Opfers. Als er am Ende seines Lebens, das er grösstenteils im Gefängnis verbrachte, eines natürlichen Todes starb, hinterliess er seine Memoiren mit dem Wunsch, als Einband solle seine eigene Haut verwendet und das Buch dann dem Mann geschenkt werden, der sich gegen den Überfall so heftig zur Wehr gesetzt hatte. Sein Name: John A. Fenno. Dessen Erben vermachten später dieses makabre Geschenk der Bibliothek. Die Mehrzahl solcher Einbände stammt jedoch aus dem medizinischen Kontext. 1911 berichtet der Berliner Buchbinder Paul Kersten in einer Fachzeitschrift, dass ihm kürzlich ein Arzt ein Stück Menschenhaut in der Grösse 65 mal 75 Zentimeter zur Verfügung gestellt habe, damit er eine grossformatige anatomische Abhandlung von B. S. Albinus mit Zeichnungen des Künstlers Jan Ladmiral darin einbinde. Das wertvolle Werk kam 1932 in den Besitz der Lane Medical Library.

Eine der grössten Sammlungen von medizinischen Werken mit Einbänden aus Menschenhaut befindet sich heute im anatomisch-pathologischen Museum des College for Physicians in Philadelphia – nicht etwa im Depot, sondern am Beginn des Rundgangs. Auf einem der Einbände liest man den Vermerk: «human skin leather tanned 1863». Sogar ein Portemonnaie, das aus gegerbter Menschenhaut hergestellt wurde, ist in der Ausstellung zu sehen.

Ethische Selbstverpflichtung

Bei den meisten Besuchern dürfte sich beim Betrachten dieser Exponate ein leichtes Gruselgefühl oder Irritation einstellen, zumal man mit seinen Eindrücken allein gelassen wird. In der Vitrine vermisst man jeden Hinweis auf den Kontext oder gar auf die ethische Problematik der Zurschaustellung menschlicher Organe oder Gewebe, die in jener Zeit meist ohne Zustimmung der betreffenden Person – und nicht nur zu wissenschaftlichen Zwecken – entnommen wurden. Vorbildlich ist dagegen die Harvard Law Library, die ebenfalls ein Buch mit einem Einband aus Menschenhaut besitzt, in diesem Fall eine juristische Abhandlung aus dem 17. Jahrhundert. Das Buch ist nur dann zu besichtigen, wenn jemand ein ernsthaftes wissenschaftliches Interesse geltend machen kann. Doch bevor sich Sammlungen und Bibliotheken in aller Welt einer solchen ethischen Selbstverpflichtung unterwerfen, gilt es, in den eigenen Beständen nach einschlägigen Bucheinbänden zu suchen und problematische Funde nicht zu verschweigen.

Prof. Dr. Robert Jütte leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart.

 

 








By Richard Avedon







Schützerfest

 

Wir sind in Sicherheit

 

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·  ................................

·  ................................

 

 

 








Zum Tode von Irving Penn (1917-2009)









Buchmesse
Hallo Süßer... wie wär's mit uns?
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Für 19 Euro 80.







 

Langeweile - dieses zarte Scheusal

 

Ein abendländischer Spaziergang

 

 

 

Von Niels Höpfner

 

 

"...unter den Schakalen, den Panthern, den Hetzhündinnen, den Affen, den Skorpionen, Geiern, Schlangen, den Untieren allen, die da belfern, heulen, grunzen, kriechen in der ruchlosen Menagerie unserer Laster,// Ist eines häßlicher, und böser noch, und schmutziger! Ob es auch keine großen Glieder reckt, noch laute Schreie ausstößt, zertrümmerte es gern die ganze Erde, und gähnend schluckte es die Welt ein;// Die Langeweile ists'.- Das Auge schwer von willenloser Träne, träumt sie von Blutgerüsten, ihre Wasserpfeife schmauchend; du kennst es, Leser, dieses zarte Scheusal..."

 

Sie steht in schlechtem Ruf, die Langeweile, und das nicht erst, seitdem Charles Baudelaire sie im Eingangsgedicht zu seinen "Blumen des Bösen" mit obigen Zeilen beschrieben hat. Das Wort  "Langeweile" ist im Deutschen bereits im 14. Jahrhundert anzutreffen, bürgert sich jedoch erst ein im 17. Jahrhundert und macht eine rasante Karriere in den folgenden Jahrhunderten. Eine verbindliche Definition der Langeweile aber fehlt. So findet sich beispielsweise im "Handbuch der Psychologie", Bd.9, nur der lakonische Hinweis: "Der Begriff der 'Langeweile' ist in der deutschen Sprache nicht eng festgelegt."

 

Trotzdem mangelt es nicht an Definitionsversuchen. Eine etymologische Bestimmung etwa lautet: "Die Langeweile besteht darin, daß einem die Weile lang wird, daß einem die Zeit zur Weile wird."

 

Im "Brockhaus" wird Langeweile charakterisiert als ein "Zustand der Unausgefülltheit und Erlebnisarmut mit Dehnung des Zeiterlebens auf Grund reizarmer Umgebung, fehlender oder gleichförmig wiederkehrender Reize oder wegen innerer Gleichgültigkeit und Phantasieleere".

 

Auch wenn die psychologische Literatur zum Thema überraschend spärlich ist, sind zumindest Ansätze einer Begriffsbestimmung der Langeweile vorhanden. In seinem 1903 erschienenen "Leitfaden der Psychologie" sieht Theodor Lipps sie als "Widerstreit zwischen dem Bedürfnis intensiver psychischer Betätigung und dem Mangel der Anregung dazu, bzw. der Unfähigkeit, sich dazu anregen zu lassen".

 

An diese Auffassung knüpft Wilhelm Josef Revers an, wenn er in seiner Schrift "Die Psychologie der Langeweile" (Meisenheim 1949) feststellt: "Langeweile ist das Erlebnis einer ziellosen Strebung."

 

Nur im Deutschen und in keiner anderen Sprache meint Langeweile einen psychischen Zustand, in dem sich ein subjektives Zeitempfinden artikuliert. So schreibt der Psychologe A.E. Hoche in seinem Buch "Aus der Werkstatt" (München 1935) "als die eigentliche Achse des Zustandes der Langeweile erkennen wir das Verhältnis zwischen Zeitspanne und Inhalt. Langeweile entsteht, wenn dies Verhältnis ein bestimmtes, uns mit Unlust berührendes Maß von Verschiebung erleidet".

 

Diese Aussage paraphrasiert eine Erkenntnis, zu der bereits Immanuel Kant gelangte: "Wenn die gegenwärtige Zeit nur als ein Zwischenraum zwischen Mittel und Zweck betrachtet wird, so wird sie lang, aber mit Ekel."

 

Da die Psychologie oder auch die Soziologie relativ junge Wissenschaften sind, war die geistige Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz bis weit ins 19. Jahrhundert vornehmlich der Philosophie und der Theologie überlassen. So gehörte auch zu den ersten, die sich theoretisch mit dem Phänomen Langeweile auseinandersetzten, ein Religionsphilosoph: Blaise Pascal.

 

In seinem 1669 erschienenen Werk "Pensées" ("Gedanken") schreibt er: "Man sucht die Ruhe, indem man einige Hindernisse bekämpft: Und wenn man sie überwunden hat, wird die Ruhe unerträglich durch die Langeweile, die sie erzeugt. Man muß frei werden von ihr und den Tumult erbetteln; denn entweder denkt man an die Leiden, die man hat, oder an die, die uns drohen. Und selbst, wenn man sich nach allen Seiten hinlänglich gesi­chert sähe, so würde unfehlbar die Langeweile aus der Tiefe des Herzens aufsteigen, wo sie natürliche Wurzeln hat und den Geist mit ihrem Gift erfüllen. Darum ist der Mensch so unglücklich, daß er sich aufgrund seiner besonderen Naturveranlagung selbst ohne jeden Anlaß zur Langeweile langweilen würde..."

 

Für Pascal gehört - neben der Unbeständigkeit und Rastlosigkeit - die Langeweile zur menschlichen Natur: "Condition de l'homme; inconstance, ennui, inquietude." Die menschliche Natur aber ist durch ihre Entfernung von Gott längst beschädigt, und nur so kann Langeweile wirksam werden. Pascal unterscheidet ausdrücklich zwischen der "misère de l'homme sans Dieu" und der "felicité de l'homme avec Dieu", dem menschlichen Elend ohne und dem mensch­lichen Glück mit Gott. Wie sehr Langeweile auch zur menschlichen Natur gehört, hat sie durchaus einen Anfang. Nach Pascal ist der Mensch ständig auf der Flucht vor sich selbst und vor der Ruhe, in der ihm seine Nichtigkeit und Vergänglichkeit bewußt würden: "Nichts ist dem Menschen so unerträglich, wie in einer völligen Ruhe zu sein, ohne Leidenschaft, ohne Tätigkeit, ohne Zerstreuung, ohne die Möglichkeit sich einzusetzen. Dann wird er sein Nichts fühlen, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unablässig wird aus der Tiefe seiner Seele die Langeweile aufsteigen, die Niedergeschlagenheit, die Trauer, der Kummer, der Verdruß, die Verzweiflung."

 

Für Pascal versäumt der Mensch die Möglichkeit, Gott als dasjenige zu begreifen, was allein, imstande wäre, seine Leere auszufüllen. Wie der Literaturwissenschaftler Walter Rehm in seinem wichtigen Buch "Gontscharow und Jacobsen oder Langeweile und Schwermut" (Göttingen 1963) schreibt, hat Pascal "die ursächliche und metaphysische Bindung der Langeweile an den erschütterten Gottesglauben geahnt und... vom Christlichen her sie in ihrem Sinn und Grund ausgelegt".

 

Der Philosoph Sören Kierkegaard hat im 19. Jahrhundert die Überlegungen Pascals radikal zu Ende gedacht. In aller Deutlichkeit wird bei ihm, wie Walter Rehm es formuliert hat, "die Langeweile als die Macht, die den Menschen vor das Nichts rückt..., zum Ausdruck eines negativ gewordenen Gottesverhältnisses".

 

In seiner Schrift "Der Begriff der Angst" analysiert Kierkegaard das Dämonische als "Angst vor dem Guten" und letztlich als "das In­haltslose, das Langweilige", wobei für ihn die Langweile "die Erstorbenheit..., eine Kontinuität im Nichts" bedeutet. Zum Hauptthema wird Kierkegaard die Langeweile, "diese inhaltslose Ewigkeit, diese genußlose Seligkeit, diese oberflächliche Tiefe, diese hungrige Übersättigung", wie er sie bereits zuvor nannte, in seiner Abhandlung "Die Wechsel-Wirtschaft. Ein Versuch in der sozialen Klugheitslehre".

 

Hier gibt Kierkegaard eine Genealogie: "Im Anfang war die Langweile. Die Götter langweilten sich, darum schufen sie den Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen. Und von diesem Augenblick an war die Langweile in der Welt und nahm zu im geraden Verhältnis zur Zahl der Menschen. Adam langweilte sich allein, dann langweilten sich Adam und Eva zu zweien, dann langweilten sich Adam und Eva und Kain und Abel en famille,  dann wuchs die Menge der Menschen auf Erden und sie langweilten sich  e n  m a s s e. Um sich zu unterhalten kamen sie auf den Gedanken einen Turm zu bauen, so hoch, daß er bis in den Himmel rage. Dieser Gedanke war ebenso langweilig wie der Turm hoch und beweist mit erschreckender Deutlichkeit, daß die Langeweile schon gesiegt hatte. Dann wurden sie über die Erde zerstreut/ eine kleine Zerstreuung wie heute eine Reise ins Ausland/ und langweilten sich weiter. Und die Folgen dieser Langweile? Der Mensch stand hoch und fiel tief; zuerst durch Eva, dann vom babylonischen Turm!"

 

Unentbehrlich für eine Diskussion der Langeweile sind die beiden Begriffe Müßiggang und  Arbeit. über das Nichtstun schreibt Kierkegaard: "Müßiggang, heißt es, sei aller Laster Anfang. Um also das Böse fernzuhalten empfiehlt man die Arbeit. ...Müßiggang an sich ist keineswegs die Wurzel alles Bösen, sondern das wahre göttliche Leben/ nämlich wenn man sich nicht langweilt. ...Glücklich die olympischen Götter, die selig im seligen Müßiggang lebten: sie langweilten sich nicht! Glücklich eine Schönheit, die weder näht noch spinnt, weder pinselt noch liest noch musiziert: sie langweilt sich nicht! Nein, Müßiggang ist nicht die Wurzel alles Bösen; Müßiggang ist das wahre Gute. Die Langweile ist die Wurzel des Bösen; sie muß man bekämpfen. Wer keinen Sinn für Müßiggang hat, der hat sich noch nie zu echter Humanität erhoben. Es gibt Menschen, die ihre unermüdliche Geschäftigkeit für immer aus der Welt des Geistes ausschließt und auf eine Stufe mit dem Tier stellt, das von seinem Instinkt zu, fortwährender Bewegung angetrieben wird. Solche Menschen haben ein merkwürdiges Talent alles in ein Geschäft zu verwandeln; ihr ganzes Leben ist Geschäft; sie lieben und heiraten, sie amüsieren sich mit demselben gewichtigen Ernst, mit dem sie im Kontor arbeiten. Das lateinische Sprichwort  otium est pulvinar diaboli ist richtig; aber wenn man sich nicht langweilt, hat der Teufel gar keine Zeit, seinen Kopf auf dies Kissen zu legen."

 

Zum Pendant des Müßiggangs, zur Arbeit äußert Kierkegaard: "...da die Menschen nun einmal glauben, daß sie zum Arbeiten auf der Welt seien, so ist es richtig dem Müßiggang die Arbeit entgegenzu­setzen. Ich nehme indessen an, daß der Mensch dazu bestimmt ist sich zu amüsieren... Die Langweile ist der dämonische Pantheismus. An sich ist sie das Böse, aufgehoben ist sie das Wahre; aufgehoben wird sie nur durch Unterhaltung; ergo: man muß sich unterhalten. Zu sagen, man könne die Langweile durch Arbeit aufheben, verrät unklares Denken. Der Müßiggang kann durch Arbeit aufgehoben werden, weil er das Gegenteil der Arbeit ist; nicht aber die Langweile. Daher sind auch die allerfleißigsten Arbeiter, die ewig brummenden und schnurrenden Insekten, die allerlangweiligsten Wesen und wenn sie sich nicht langweilen, so kommt das daher, weil sie nicht wissen was Langweile ist; aber damit ist die Langweile nicht aus der Welt geschafft, daß man sich ihrer nicht bewußt wird."

 

Wie sehr dennoch Arbeit in ursächlichem Zusammenhang mit Langeweile steht, die keineswegs ihren Ursprung im mythischen Dunkel hat, verdeutlicht Friedrich Nietzsche im Abschnitt 611 von "Menschliches, Allzumenschliches": "Das Bedürfnis zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfnis gestillt wird; das immer neue Erwachen des Bedürfnisses gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfnis geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker jemand gewöhnt ist zu arbeiten..."

 

Die "Gewöhnung an Arbeit"- sie erhielt ihren entscheidenden Schub in der Reformationszeit, die auch maßgeblich ist für die Herausbildung des Kapitalismus, wie der Soziologe Max Weber erkannte. Es fand eine Umwertung der benediktinischen "Ora et labora"-Mentalität des frühen Mittelalters statt, immer mehr rückte die Arbeit ins Zentrum des Lebens, wurde zunehmend ein Hauptbereich ethischer Pflichterfüllung und Ver­antwortung, verbrämt als Dienst am Mitmenschen. Eine Vergötzung der Arbeit schließlich förderte besonders der Reformator Calvin, der in seiner Prädestinationslehre behauptete, aus dem Erfolg des Menschen könne auf seine Erwählung durch Gott geschlossen werden. Ein heutiger Exeget Calvins hat dies auf die naiv-zynische Formel gebracht: "Diese dynamische Einstellung Calvins zum Privateigentum, das als Gabe immer auch Aufgabe ist, führt zu einem positiven Verständnis von Arbeit."

        
Sicher ist es kein Zufall, daß das Wort  L a n g e w e i l e  zum erstenmal während der Reformationszeit in einem Diktionär auftaucht, nämlich in dem 1537 erschienenen Wörterbuch von Petrus Dasypodius. Bis zum 12. Jahrhundert war für den braven Christenmenschen Langeweile verpönt, denn sein Interesse galt der Ewigkeit des Jenseits. Aber schon ins höfische Zeiterleben, in die Ritterwelt, sickerte das Gefühl der Langeweile ein, indem die Menschen immer mehr sich ihrer selbst bewußt wurden.

 

Mit dem Zusammenbruch des Feudalismus war auch ein bedeutender ökonomischer Wandel verbunden: entlassen aus hochherrschaftlicher Fron, die der antiken Sklavenwirt­schaft gar nicht so unähnlich war, fanden die Menschen sich wieder in einer erbitterten Wettbewerbssituation. Auf allen Gebieten - in der Landwirtschaft, beim Handwerk, bei der Lohnarbeit - verstärkte sich der Konkurrenzkampf, wobei die permanente Ausdehnung des Handels ein übriges leistete.

 

Wenn im 18. Jahrhundert der französische Langeweile-Begriff  E n n u i  ins Deutsche eindringt, ist dies nicht nur eine Modeerscheinung, sondern eher eine Zwangsläufigkeit, denn dies Wort bezeichnet nicht bloß Langeweile, sondern auch Lebensekel, existentielle Unlust und Leere. Und ebenso zwangsläufig will es erscheinen, daß nach der Industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts ein Generalthema die europäische Fin de siede - Literatur prägt: Langeweile.

 

In der Philosophie war dafür der Boden vorbereitet worden, nicht nur durch Kierkegaard, sondern in erheblichen Maße auch von Kant und Schopenhauer. Kant untersuchte in Zusammenhang mit den Gefühlen "der Lust und der Unlust" das Wesen der Langeweile in seiner 1798 veröffentlichten "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht". Nach Kant herrscht im menschlichen Bewußtsein ein "Druck oder Antrieb, jeden Zeitpunkt, darin wir sind, zu ver­lassen und in den folgenden überzugehen". Zu einer "Anekelung seiner eigenen Existenz" aber führt die "Leere an Empfindung, die der an den Wechsel derselben gewöhnte Mensch in sich wahrnimmt". Die protestantische Leistungsethik verinnerlichend, empfiehlt Kant, um herauszugelangen "aus der Leerheit des Gemüts an Empfindungen... der langen Weile... Beschäftigung, die Arbeit heißen und jenen Ekel vertreiben könnte".

 

Und Kant fragt, selbst gleich antwortend: "Warum ist Arbeit die beste Art, sein Leben zu genießen? Weil sie beschwerliche...Beschäftigung ist, und die Ruhe, durch das bloße Ver­schwinden einer langen Beschwerde, zur fühlbaren Lust, dem Frohsein wird; da sie sonst nichts Genießbares sein würde."

 

Wie ein höhnisches Echo auf Kants Forderung erscheint der Aufschrei von Brentanos Ponce de Leon: "Lange, lange Weile, o ich möchte die Stühle zusammenbrechen, um zu arbeiten." Und Büchners Leonce seufzt: "Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum, und meinen Gott weiß was dabei."

 

Die pessimistische Philosophie Schopenhauers unterstellt der Langeweile geradezu einen Zwangs-Charakter, wenn es in "Die Welt als Wille und Vorstellung" heißt: "Die Basis alles Wollens... (des Menschen) ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt, so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d.h. sein Wesen und sein Dasein selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also gleich einem Pendel hin und her zwischen dem Schmerz und der Langeweile, welche beide in der Tat dessen letzte Bestandteile sind."

 

Aber es fragt sich doch, ob der Mensch vom Wollen getrieben wird oder eher vom Sollen, vom Müssen; in letzterem Fall gewönne Arbeit den ursprünglichen Bedeutungssinn zurück- das mittelhochdeutsche Wort "arebeit" bezeichnet nichts anderes als "Mühsal, Not". Kant stellte fest, Langeweile finde sich nur bei  "kultivierten Menschen..., (die) auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam sind".

 

Der 'unkultivierte Wilde’ kennt laut Kant Langeweile nicht: "Der Karaibe ist durch seine angeborne Leblosigkeit von die­ser Beschwerlichkeit frei. Er kann stundenlang mit seiner Angelrute sitzen, ohne etwas zu fangen; die Gedankenlosigkeit ist ein Mangel des Stachels der Tätigkeit, der immer einen Schmerz bei sich führt, und dessen jener überhoben ist."

 

Kants Argumentation enthüllt den abendländischen Hochmut der Aufklärung, nimmt "Herrenrasse"-Ideologie vorweg. Aber entgegen seiner Absicht lieferte Kant, für den die Welt hinter Königsberg geographisch zu Ende war, auch ein brauchbares Beispiel dafür, daß Langeweile nicht unvermeidlich existentiell ist: "Der Karaibe" kennt sie nicht, weil ihm die Leistungsethik der sogenannten 'zivilisierten Welt' fremd ist. Auch heute noch lassen sich bei Reisen in den Orient, nach Asien oder Zentralafrika ähnliche Beobachtungen machen: Menschen, denen die weißen Antreiber - realiter oder ideologisch  - nicht mit der Peitsche im Nacken sitzen, arbeiten nicht mehr, als zur Befriedigung elementarster Bedürfnisse nötig ist, und am Fluß oder vor der Hütte sitzend, erleben sie das Nichtstun wohl kaum als Langeweile.

 

Was ist denn nun endlich deren letzter Grund? Pascal und Kierkegaard haben sie hergeleitet aus der Abwendung von Gott, die in theologischer Terminologie  Sünde  genannt wird. Im bürgerlichen Sinn lautet der Ausdruck dafür Schuld, und der Wort-Herkunft nach aus dem althochdeutschen "sculd" meint dies ein Sollen. Die Psychoanalyse nun hat Schuld- und also Angstgefühle zurückgeführt auf einen Widerstreit von Ich und Über-Ich. Demnach übt letzteres eine Kontrollfunktion aus, was die bewußten und unbewußten Wünsche des Ich angeht. Wollen Menschen denn unbedingt arbeiten? Oder zwingt sie nicht Notwendigkeit dazu oder ein gelerntes Kulturverhalten? So hat das Erleben von Langeweile schließlich seinen Ursprung in der Unfähigkeit, ein Nichtstun ohne Schuldbewußtsein zu ertragen.

 

Im Zeitalter der Aufklärung war, ähnlich wie beim heutigen Bildungsbürgertum, Langeweile für Kopf-Menschen verpönt. So schreibt z.B. in einem Brief der spätere Selbstmörder Heinrich von Kleist: "Langeweile ist nichts als die Abwesenheit aller Gedanken, oder vielmehr das Bewußtsein ohne beschäftigende Vorstellungen zu sein. Das kann aber einem denkenden Menschen nie begegnen..."

 

Über Jahrhunderte wurde (und wird eigentlich bis jetzt) Langeweile als eine Art Privileg der Herrschenden, der Reichen angesehen- Sozialneid, Schuldtransfer? Die traditionelle Sicht, oftmals begleitet von philiströsem Moralisieren, kulminiert in Nietzsches grausam-blöder Pointe: "Das Sprichwort: Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen gibt zu denken. Die feinsten und tätigsten Tiere erst sind der Langeweile fähig."

 

Langeweile aber ist kein elitäres, sondern ein ganz ordinäres Phänomen, schichtenspezifisch irrelevant, mit einem bestürzenden Erscheinungsbild: Der Nervenarzt und Verhaltensforscher Rudolf Bilz konstatierte an Langeweilesituationen "ohne Ausnahme Käfig- bzw. Gefängnis-Charakter".

 

Das Leiden an Langeweile kann durchaus als psychische Krankheit  gewertet werden. Überlegungen dieser Art kamen bereits im 18. Jahrhundert auf, aber sie scheinen ziemlich aus dein Blickfeld geraten zu sein. In einer anonym veröffentlichten Schrift, betitelt "Über die Langeweile", erschienen mit dem Druckvermerk "Germanien 1798", heißt es: "Dass nun aber die Langeweile eine Krankheit der Seele mit Fug und Recht genant wird, kann niemand läugnen..."

 

Vorher bereits, erstmals 1756, hatte der Arzt J.G. Zimmermann sein Buch "Über die Einsamkeit" publiziert, in dem er die Langeweile erstaunlich modern diagnostiziert: "Sie ist ein Versinken der Seele in Leerheit, eine Vernichtung aller unserer Wirksamkeit und aller unserer Kraft, eine allmächtige Schwerigkeit, Trägheit, Müdigkeit, Schläfrigkeit und Unlust; und, welches das schlimmste von allen ist, eine oft mit der größten Höflichkeit an uns ausgeübte Meuchelmörderey unseres Verstandes und jeder angenehmen Empfin­dung. Alles Hervorstreben in irgend einem Menschen, das ganze Triebwerk seines Geistes und seines Herzens, wird durch Langeweile, die er hat, oder die man ihm macht, zerdrückt und gehemmt."

 

In seinem Hauptwerk "Existenzphilosophie" unterscheidet Otto Friedrich Bollnow zwischen den "oberflächlicheren Formen, in denen etwas Bestimmtes den Men­schen langweilt" und einer "tieferen 'eigentlichen Langeweile', die den Menschen ohne bestimmbaren Grund im ganzen ergreift und in der er schlechthin 'sich' langweilt".

 

Wenn man das Leiden an Langeweile dem Bereich der Depressionskrankheiten zuordnete, ließe sich differenzieren zwischen einem neurotischen und psychotischen Erleben der Langeweile. In der schönen Literatur findet sich eine solche Unterscheidung vorbereitet.

 

Ludwig Tieck schreibt 1839 in seinen "Abendgesprächen": "Hast Du nie in Deinem Leben einmal recht tüchtige Langeweile empfunden? Aber jene meine ich, die zentnerschwer, die sich bis auf den tiefsten Grund unseres Wesens einsenkt und dort fest sitzen bleibt; nicht jene, die sich mit einem kurzen Seufzer oder einem willkürlichen Auflachen abschütteln läßt, oder verfliegt, indem man nach einem heitern Buche greift jene felseneingerammte trübe Lebens-Saumseligkeit, die nicht einmal ein Gähnen zuläßt, sondern nur über sich selber brütet, ohne etwas auszubrüten, jene Leutseligkeit, so still und öde, wie die meilenweite Leere der Lüneburger Heide, jener Stillstand des Seelen-Perpendikels, gegen den Verdruß, Unruhe, Ungeduld und Widerwärtigkeit noch paradiesische Fühlungen zu nennen sind."

 

Ähnlich äußert sich Gustave Flaubert 1844 in einem Brief: "Kennen Sie die Langeweile? nicht die gewöhnliche, banale Langeweile, die von Müßiggang oder von der Krankheit kommt, sondern diese moderne Langeweile, die den Menschen in seinen Eingeweiden zerfrißt und aus einem verständigen Wesen einen wandernden Schatten macht, ein denkendes Phantom."

 

Die schöne Literatur ist eine unerschöpfliche Fundgrube von Schilderungen der Langeweile in jeglicher Schattierung. Nicht selten finden sich extreme Fallbeispiele, die sich nur mit schriftstellerischer Sprachkraft artikulieren lassen, wenn etwa Bettina von Arnim schreibt: "Auf meiner Seele klarem Grund die Fischchen herumspielen sehen, das freut Dich? - Nun, so guck! Wie sie da fahren wie der Blitz hin und her, sie prallen ans Ufer der allbekannten todbringenden Langenweile, sie stoßen sich den Kopf ein..."

 

Wie jede andere psychische Krankheit, sofern sie heilbar ist, dem Betroffenen neue Seins-Perspektiven eröffnen „kann, hat auch das Erleben von Langeweile positive Aspekte. Der Literaturwissenschaftler Ludwig Völker weist in seinem Buch "Langeweile. Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs" (München 1975) darauf hin, daß eine solche Sicht bereits bei den "Schwärmern" verbreitet war. In einer Schrift dieser Sekte der Reformationszeit heißt es, von Luther als "teuffeis allfentzerey" verurteilt: "...langweylickeyt vnnd verdrieß der tzeyt/ ist eyn geystliche beschneydung vnnd bereyttung tzu entpfahen Gottis werck... langweylickeyt ...treibt die grobe hewte vnnd verstopffung von dem hertzen."

 

Langeweile bedeutet hier eine Art mystischer Versenkung, die den Weg zu Gott bahnt. Erst Goethe, in dessen Werk es rund 160 Belege für das Wortfeld "Langeweile" gibt, gewinnt dem Phänomen wieder gute Seiten ab, etwa mit der Sentenz: "Langeweile ist ein böses Kraut,/ Aber auch eine Würze, die viel verdaut."

 

Goethe sieht in der Langeweile  auch eine Form schöpferischer Muße, einen Zustand "productiver Ungeduld". So apostrophiert er, der die meiste Zeit seines Lebens von entfremdeter Arbeit verschont blieb, die Langeweile als "Mutter der Musen" und dichtet sie an: "Die du steigst im Winterwetter/ Von Olympus Heiligthum/ tahtenschwangerste der Götter/ Langeweile! Preis und Ruhm/ Danck dir!"

 

In neuerer Zeit setzen sich die Umwertungen der Langeweile fort. So meint Walter Benjamin in den "Illuminationen": "Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet."

 

Und Martin Heidegger schreibt in "Was ist Metaphysik?": "Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Hebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende in Ganzen."

 

In seinem Werk "Der eindimensionale Mensch" rückt der Gesellschaftstheoretiker Herbert Marcuse die Nebelschwaden Heideggers energisch beiseite, wenn er Möglichkeiten einer sozialen Veränderung zu bedenken gibt: "Um ein (leider phantastisches) Beispiel zu wählen: die bloße Abwesenheit aller Reklame und aller schulenden Informations- und Unterhal­tungsmedien würde das Individuum in eine traumatische Leere stürzen, in der es die Chance hätte, sich zu wundern, nachzudenken, sich (oder vielmehr seine Negativität) und seine Gesellschaft zu erkennen. Seiner falschen Väter, Führer, Freunde und Vertreter beraubt, hätte es wieder sein ABC zu lernen. Aber die Wörter und Sätze, die es bilden würde, könnten völlig anders ausfallen, ebenso seine Wünsche und Ängste."

 

Von einem solchen Zustand sind wir gegenwärtig noch weit entfernt. Arbeitnehmer in den westlichen Industrieländern arbeiten bei einer 40-Stunden-Woche, abzüglich der Ferien- und Feiertage,  etwa 18oo Stunden pro Jahr; und die Gewerkschaften empfehlen die 35-Stunden-Woche. Ein gewöhnliches Jahr hat 8760 Stunden, und wenn davon selbst 12 Stunden pro Tag für Schlafen, Essen, Körperpflege, Arbeitsweg und kleinere Besorgungen aufgewendet werden, bleiben jährlich immer noch ca. 2500 Stunden sogenannter Freizeit übrig.

 

Kaum wird sie genutzt im Sinne Marcuses, sondern eher wuchert wie eine Krankheit die Langeweile. Zur Therapie der Langeweile bietet die Industrie Fernsehen, Freizeitparks, Ferienreisen, Fußball, Videorecorder, Popmusik, Alkohol und andere Drogen an, ja, es gibt sogar Bücher, die Erwachsene kindisch entmündigen mit Tips zum Zeitvertreib.

 

Das alles und dergleichen mehr dürfte kaum weiterhelfen bei der Bekämpfung der Langeweile. Einzig eine Veränderung der Arbeitsverhältnisse kann die Langeweile in ihren schlimmsten Auswüchsen bremsen und zumindest ihr psychotisches Erscheinungsbild revidieren, wobei es weniger auf eine Arbeitszeitverkürzung ankommt, sondern vielmehr auf den Abbau eines brutalen Konkurrenzverhaltens. Eine Veränderung der Arbeitsverhältnisse brächte eine andere Einstellung zur Arbeit mit sich, und die wiederum erlaubte auch ein Nichtstun  ohne Schuldgefühle, was, mehr oder weniger, eine  Aufhebung der Langeweile bedeutete.

 

Einstweilen aber noch bewirkt Langeweile beim einzelnen, wie es zumindest scheint, einen nicht unbeträchtlichen Leidensdruck, jedoch ist andererseits auch nicht ihr allgemeines destruktives Potential zu unterschätzen, mit ihrer Tendenz zu sinnlosem Aktionismus, zur Gewalt. Die Langeweile, "ce monstre delicat - dieses zarte Scheusal", zart: weil so wenig griffig und nur schwer zu fassen, träumt, wie Baudelaire schrieb, von Blutgerüsten und will die ganze Welt zertrümmern.

 

(1984)

Neuere Literatur

 



Weltgewandt, unbekannt

Walter Kappacher über Alexander von Villers

Geboren in Moskau, aufgewachsen in Dresden, ein Bohemien in Paris, kam der Legationsrat 1853 nach Wien und fand Zugang zum Wiener Adel.

Er, der große Briefeschreiber, beklagte sich einmal, dass heutzutage kaum noch jemand einen Brief schreibe. Schon zu seinen Lebzeiten war die große Zeit des Briefeschreibens, das 18. Jahrhundert, längst Vergangenheit. Gut, dass er nicht in unserem Jahrhundert lebte oder gar in unserem Jahrzehnt, und dass er womöglich das Ende der Postzustellung erleben müsste.

Äußere Erfolge konnte Alexander von Villers in seinem Leben keine vorweisen, aber in seiner Fantasie schöpfte er aus dem Vollen wie wenige. Als er 1853 in Wien eintraf, muss er in der Gesellschaft wie ein Mensch von einem anderen Stern gewirkt haben. Sein Freund Alexander von Warsberg sagte einmal: "Geistvoller, vielseitiger, gewandter habe ich nie sprechen hören. Seitdem ich länger in Paris gelebt, dort vielen Verkehr mit Männern ersten Ranges gehabt, ist mir seine Redensweise nicht mehr so erstaunlich gewesen."

Alexander von Villers stammte aus einem alten lothringisch-burgundisch-sächsischen Geschlecht. Sein Vater, Gegner der französischen Revolution, kämpfte in der Armee des Prinzen Condé, flüchtete nach der Niederlage der Königstreuen mit seiner Frau nach Deutschland und weiter nach St. Petersburg und Moskau, wo der Vater eine "französische Pension" eröffnete, in der er auch Sprachunterricht erteilte. Die Familie kam in Moskau, wo 1812 der Sohn Alexander Heinrich geboren wurde, rasch wieder zu Wohlstand. Der Einmarsch Napoleons führte jedoch dazu, dass der Vater als verdächtiger französischer Spion in Gefangenschaft geriet. Die Mutter flüchtete mit dem Sohn nach Deutschland, führte in Leipzig eine ärmliche Existenz, bis der Vater nach anderthalb Jahren freigelassen wurde. Die Situation besserte sich endlich, als König August von Sachsen den Vater als Professor der französischen Sprache nach Dresden berief.

Es heißt, Alexander sei ein störrisches, nicht zu bändigendes Kind gewesen, weder durch Schläge noch durch gute Worte zu beeinflussen. Da er weder mit den Schullehrern noch mit den Privatlehrern auskam, gab ihn der Vater kurzerhand zu dem bekannten Leipziger Buchdrucker Tauchnitz in die Lehre, mit einer Unterkunft bei einer befreundeten Patrizierfamilie. Tagsüber stand er am Setzkasten, abends suchte er als junger Weltmann in den Kreisen adeliger Studenten zu glänzen, die den anmaßenden Eindringling meistens abblitzen ließen. Sein Vater bekam den Sohn nur zu Gesicht, wenn dieser Geld brauchte. Bald wurde seine Stellung in Leipzig unhaltbar, und sein Vater rief ihn zurück nach Dresden. 1830 schickte er Alexander nach Paris, wo er als Volontär in einer großen Buchdruckerei arbeiten sollte. In Paris jedoch wurde der junge Villers vollends zum Bohemien. Er führte das Leben eines verbummelten Studenten, der in einer Garküche aß und wohl auch ab und zu Vorlesungen an der Sorbonne besuchte. In dieser Zeit, 19-jährig, wurde er in einem Pariser Salon mit Franz Liszt bekannt gemacht. Augenblicklich entwickelte sich zwischen den beiden jungen Menschen ein stundenlanges Gespräch, welches sie dann spätnachts auf der Straße fortsetzten. Sie spazierten durch die Gassen, unterhielten sich angeregt, bis Liszt ihn fragte, wo er wohne, er wolle ihn nach Hause begleiten. Villers antwortete, er sei zurzeit mittellos, beabsichtige in einem der durchgehend geöffneten Cafés zu übernachten. Daraufhin sagte Liszt, er habe eine große Wohnung, und lud ihn zu sich ein - Villers nahm die Gastfreundschaft an, lebte monatelang mit Liszt zusammen, begleitete ihn auf seine Konzertreisen. Von da an ließ sein Interesse an der Musik nicht mehr nach; er versuchte sich sogar selbst an Kompositionen.

Er hasste Dummheit

Sein Vagabundenleben endete erst, als ihm von einer Madame Clermont eine Hauslehrerstelle angetragen wurde. Auf einmal wurde er ruhiger. Er begann sich in seiner freien Zeit ernsthaft mit Musik und Naturwissenschaften zu beschäftigen. Ein bekannter Botaniker, Gustave Thuret, scheint einen ausgleichenden und beruhigenden Einfluss auf ihn gewonnen und seine Interessen auf die richtigen Wege geleitet zu haben. Seine Ferien benützte Villers nun, um sich als Musiklehrer auszubilden, er ging nach Offenbach, um bei Hofrat André das Kontrapunktieren zu erlernen. Dort lernte er den Sprachforscher Karl Ferdinand Becker kennen, der eine Pension führte. Becker weckte in Villers die Neigung für linguistische und grammatische Studien. Im Sommer 1834 besuchte er seinen Vater in Dresden und versöhnte sich mit ihm.

Die Familie von Seebach, die Villers bei einem seiner Besuche in Dresden kennenlernte, zog den weltgewandten jungen Mann in ihren Kreis. Camillo Seebach wollte Villers im Staatsdienst unterbringen, aber Villers lehnte untergeordnete Posten ab. Als Seebach ihm vorschlug, ihm die Mittel zur Verfügung zu stellen, damit er seine Studien abschließen könne - die Voraussetzung für die höheren Ämter -, entschloss er sich dazu, sich mit seinen dreißig Jahren noch einmal auf die Schulbank zu setzen. Schon nach zwei Jahren, in denen er sich voll auf seine Studien konzentrierte, schloss er die Reifeprüfung und das juristische Staatsexamen ab. Es folgten Ämter in Ministerien in Dresden, Frankfurt und Paris und schließlich als Legationssekretär in Berlin. Im Mai 1853 kam er in der gleichen Eigenschaft nach Wien, und wurde 1860 zum Legationsrat befördert. Es scheint, dass er damit an den Ort gekommen war, für den er bestimmt war, obwohl ihn sein schon in jungen Jahren ausgeprägter Unabhängigkeitssinn immer wieder in Konflikt mit seinen Vorgesetzten brachte. Er hasste Dummheit und Kleinkrämerei über alles. Es scheint, dass er seine Ferien immer mehr ausdehnte. Sein Verhältnis zu dem Kabinettschef von Könneritz wurde immer mehr ein unerträgliches. Schon Villers selbstbewusstes Auftreten missfiel seinem Vorgesetzten. Sein Wunsch nach Unabhängigkeit, nach Ruhe wurde mit den Jahren immer stärker, und so reichte er 1870 ein Abschiedsgesuch ein, welches auch genehmigt wurde. Sicherlich war man froh, den Quergeist los zu sein. Schon in den ersten Jahren in Wien gelang es ihm, Zugang in die exklusiven Kreise des Wiener Hochadels zu erlangen. Sie waren der seinem Wesen gemäße Menschenschlag: weltkundig und gebildet, ohne Pedanterie. Bei ihnen und durch sie entwickelte der glänzende Plauderer endlich Wurzeln. Mit größter Selbstverständlichkeit gebrauchte er in einem Brief aus dem Jahr 1871 aus dem Pinzgau das Wort "Himmidatti" , während er das Schauspiel eines mächtigen Gewitters beschrieb. Er hatte sich sogar den österreichischen Dialekt zu eigen gemacht, ohne dass es im Geringsten anmaßend gewirkt hätte.

Vor allem zwei Frauen und zwei Männer waren es, denen er besonders zugetan war, an die er seine später berühmt gewordenen Briefe schrieb: Rudolf Graf Hoyos, Eleonore Gräfin Hoyos, Alexander Freiherr von Warsberg und Berta Gräfin Nako (die ein Altersporträt von Villers malte.)

Er genoss die Sommer auf dem Landsitz des Grafen Nako in Schwarzau, gegenüber dem Schloss Pitten. Aber besonders auf dem Schloss Cobenzl, wo er Ende der 60er-Jahre eine Zeitlang wohnte, scheint er seine Vorliebe für das Landleben entdeckt zu haben. Einen Teil des Sommers verbrachte er regelmäßig im Pinzgau, bevorzugt in dem bekannten Gasthof Lukashansl in Bruck an der Glocknerstraße. Von dort aus ging er manchmal (seine Bedienten immer dabei) wegen der dortigen berühmten Heilwässer ins benachbarte Bad Fusch. Als 1870 sein Abschiedsgesuch bewilligt worden war, schrieb er an die Gräfin Nako von sich: "Er kriegt eine Pension wie drei Stubenmadln und geht wahrscheinlich ins Pinzgau." Die Wirtin des Gasthofes Lukashansl stellte Villers ein geräumiges Zimmer im Tauernhaus - einem großen Wirtschaftsgebäude am Beginn des Käfertales - zur Verfügung. Hier war er der einzige Gast; er baute den Raum selbst um, sodass er dann drei Zimmer hatte. "Schon ist die Sache im Bad ruchbar geworden und mancher Kurgast sehnt sich vergeblich hier herunter. Dort mag es gräulich sein ... Laut schreiende, bummelnde, zudringliche Wiener ... Meinen Umgang bilden zahlreiche Hühner, vier Gänse, einige prachtvolle Kühe und ein schwarzer Hofhund ... Die Emerenz, die Nandl und die Cilli bilden den Hofstaat ... Sonst leb ich hier höchst behaglich ..., den größten Teil des Tages im Lehnstuhl am offenen Fenster; habe meine Bücher und gewohnten Gegenstände um mich herum, als wär' ich hier geboren" (an Hoyos). Er liest Schopenhauer und Kant, schreibt philosophische Fragmente, Romanfragmente, veröffentlicht viele Feuilletons. Karlheinz Rossbacher erwähnt in seinem Buch Literatur und Bürgertum, dass Villers sich mit Sprachkritik beschäftigte, dass von ihm Töne zu hören seien, die auf Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein vorauswiesen.

Als Dichter und Musiker ist Villers ein Dilettant geblieben. Er selbst schrieb: "Manche, z.B. Sie und Lytton meinen, auch ich könnte schreiben. Das ist nicht wahr; die Feder, aus der Briefe fließen, kann deshalb nicht auch Bücher schreiben. Im Brief red ich zu einem, dem ich, wie wir beide nun sind, etwas zu sagen habe. Schreib ich ein Buch, wer stünde vor mir? Niemand, oder so viele, die mich stumm machen würden" (an Hoyos).

Selbst für seine Freunde gab es offensichtlich große Lücken im Lebenslauf Alexander von Villers. Bulwer-Lytton berichtete, Villers sei wegen des unter tragischen Umständen erfolgten Todes eines geliebten weiblichen Wesens an Leib und Seele gebrochen.

Warsberg bezeichnete Villers einmal als einen schroffen, harten Menschen, der immer recht haben wolle. Er habe viel Schweres erlebt und kaum je Glück gehabt. "War er allein oder nur ich bei ihm, war er voller Melancholie, erst im Gespräch taute er langsam auf." In Gesellschaft sei er manchmal heiter wie ein Bühnenkomiker gewesen.

1872 ging sein Wunsch, ganz auf dem Land zu leben, endlich in Erfüllung: Die Familie Liechtenstein verpachtete ihm das Wiesenhaus in Neulengbach. Von da an zog es ihn immer seltener nach Wien. Er besuchte seinen Freund Bulwer-Lytton (Sohn des Autors von Die letzten Tage von Pompei), reiste in den 70er-Jahren noch einmal nach Paris und Rom. Sein Palazzo della Wiesa ließ ihn endlich zur Ruhe kommen.

"Der Bauer, der 60 Jahre in mir schlummerte, ist hier erwacht, reckt die Glieder, reibt sich die Augen, reißt das Maul auf und fragt sich: Wo war ich so lange?"

Von nun an unternahm er kaum noch Reisen. Im Juli 1873 fuhr er ein letztes Mal in den Pinzgau. "Ich bin nun wie zu Hause, bin durch mitgebrachte Lebensmittel von der gar zu dürftigen Kost des Tauernhauses unabhängig ... Wie mir der erste gute Kaffee geschmeckt hat, den mir Cilli frisch brannte, das denkt sich der, der wie ich so lange Steinkohlenteer getrunken" (an Hoyos).

Die meisten Briefe an die Freunde entstehen in diesen letzten Jahren. Manchmal klagt er über Einsamkeit, andererseits empfängt er nur selten Besuche.

Er wusste um seine Herzkrankheit. Der Tod scheint trotzdem unerwartet gekommen zu sein: Vier Tage vorher schrieb er der Gräfin Nako noch einen launigen Brief: "Vor fünfzig Jahren war ich noch ganz frisch und jung, und jetzt auf einmal - es ist sehr merkwürdig! Wenn ich wieder auf die Welt kommen sollte, hab ich mir vorgenommen, als Jahrhundert zu kommen. Erstens wird man dann berühmt, kommt in die Geschichte, man erlebt eine Menge silberne und goldene Hochzeiten, Schlachten, Mietkontrakte, Schauspielerjubiläums, Wohltätigkeitsbazars, Überschwemmungskotillons und andere Unglücksvergnügungen, und schließlich wird man wenigstens neunundneunzig Jahre alt. Als Jahrhundert kann man auch anstellen, was man will, es geschieht einem nichts; nie ist ein Jahrhundert eingesperrt worden ..."

Er wurde im Februar 1880 am Grinzinger Friedhof begraben. Schon ein Jahr nach seinem Tod gaben seine Freunde eine erste zweibändige Auswahl Briefe eines Unbekannten heraus.                                                                                                               
Walter Kappacher, DER STANDARD/ Wien, 25./26.07.2009)


Villers : Alexander v. V. wurde zu Moskau am 12. Mai 1812 geboren. Nicht in seinem engeren Berufe, als Diplomat, und trotz unverkennbarer schriftstellerischer Begabung, auch nicht durch umfangreichere Schöpfungen seiner Feder ist er zu Wirkung und zu Ruhm gelangt. Zum Schriftsteller befähigte ihn eine scharfe Beobachtungsgabe, ein unbeirrbarer, nie fremdem Urtheile untertäniger kritischer Blick, dann die seltene Kunst, den feinsten Stimmungsmomenten der Beobachtung einen zutreffenden, plastischen Ausdruck zu leihen, endlich ein gesunder und geschmackvoller Humor, der ihm auch in melancholischer Gemüthsverfassung einen guten Tropfen glücklicher Ironie schenkt. Diese reichen Mittel schriftstellerischer, ja dichterischer Kunst hat V., emsig an seinem eigenen Ich arbeitend und dieses eigene Ich ausgestaltend, nicht der großen Menge hingeworfen; er lebte und webte nur für sich und für eine kleine Schar auserlesener Freunde. Dieselben Freunde haben nach seinem Tode aus den Belegstücken eines für sie unschätzbaren geistigen Verkehrs, aus den Briefen Villers', eine Auswahl getroffen, und durch den Druck dieser Briefe ist der Abgeschiedene erst eine litterarische Individualität geworden, ein deutscher Schriftsteller, der in der Geistesgeschichte seiner Zeit einigen Raum einzunehmen berufen ist. Ein Lebenskünstler eigenthümlichster Art, ein Sonderling, aber ein berechtigtes Original, ist V. nicht nur dem engeren Kreise seiner litterarisch angehauchten Freunde Muster und Vorbild geworden; seine Erscheinung gestaltet sich mehr und mehr zum Typus einer eigenthümlich österreichischen Culturentwicklung; in ihm zeigt sich ausgeprägt und ausgebildet, was dem österreichischen Geistesleben im Gegensatz zum norddeutschen einen besonderen Stempel aufdrückt. Franzose von Abkunft und im fernen Osten geboren, mußte V. lange und schwierige Umwege beschreiten, ehe er in Oesterreich festen Fuß faßte; dann freilich ist er ganz im österreichischen Leben aufgegangen und er hat in den schwer zugänglichen Kreisen der österreichischen Aristokratie nicht als Fremder, sondern als Zugehöriger gelebt und gewirkt. Villers' Vater, ein Emigrant von altem lothringischen Adel, hatte in Moskau Stellung gefunden und leitete zu Anfang des Jahrhunderts dort ein staatliches Institut. Politische Ereignisse untergruben seine Stellung. Sein Sohn kam im Kerker zur Welt. Eine treue russische Amme rettet ihn; in Dresden, wo die Familie sich niederließ, wird er erzogen und verzogen, verhätschelt und vernachlässigt. Aus dem väterlichen Hause verstoßen wird er in Leipzig Buchdrucker, weiß sich in den Abendstunden den Schein aristokratischer Existenz zu wahren, versöhnt sich mit seiner Familie, überwirft sich wieder mit ihr, und geht mit wenig hundert Franken in der Tasche nach Paris. Hier beginnt eine echte Bohèmeexistenz. V. lebt in einer Mansarde, versäumt keine Aufführung eines Stückes von Victor Hugo, verkehrt mit hervorragenden Gelehrten. Einmal verläßt er in Liszt's Begleitung einen Pariser Salon; beide durchmessen in angeregtem Gespräche bei finsterer Nacht die Straßen von Paris. Liszt will endlich den liebgewonnenen jungen Mann nach Hause führen und erfährt, daß er, völlig mittellos, keine Wohnung mehr habe und in einem Café übernachten wolle. Fortab ist V. Liszt's Gast und begleitet ihn auf Reisen. Trotz äußerer Regellosigkeit ist V. damals schon charakterfest genug, um einen jungen, im Leichtsinn und Müssiggang aufgehenden Lebemann zu ernster wissenschaftlicher Arbeit zu gewinnen. Ein Bund fürs Leben ist geschlossen; die Dankbarkeit des Freundes konnte Villers' Lebensabend noch verschönern. V. selbst gewinnt als Hofmeister, zuletzt als Prinzenerzieher seinen Unterhalt; in gesicherterer Lebenslage ist er unablässig bestrebt, seine unregelmäßige Bildung auszureichen. Als angehender Dreißiger läßt er sich von dem Grammatiker Becker deutsche Sprache lehren, er besucht das Gymnasium und wagt sich an die Reifeprüfung, um auch Universitätsstudien treiben zu können. Eine echt romantische, völlig individualistische Lebensbahn! Ebenso ungewöhnliche, der philiströsen Entwicklung normaler Bildung Hohn sprechende Wege wandeln Friedrich Schlegel, Brentano, Varnhagen oder Heine. Doch, wenn der romantische Lebenskünstler in ungebundner Freiheit sein Leben sich zurecht gestaltet, so steift er sich auf das Princip schrankenlos genießender Bildung, bis schließlich alles in göttlichem Nichtsthun aufgeht. V. war eine zu thatenfreudige Natur, um in romantischer Faullenzerei zu verbummeln. Sein rastloses Ringen verschaffte ihm auch schließlich eine ehrenvolle äußere Existenz. Die außerordentlichen geistigen Fähigkeiten des Prinzenerziehers blieben nicht unbeachtet, und er landet im sächsischen diplomatischen Dienste. Nach Frankfurt, wieder nach Paris, nach London und nach Wien führt ihn sein neuer Beruf. Abgethan ist, was an das einstige Bohèmeleben erinnert. Ein correcter Cavalier, ein amüsanter Gesellschafter, ein ausgezeichneter Whistspieler wird V. überall Liebling der höchsten Kreise. Allein im äußern Leben geht er nicht auf. Gerade in Wien sieht er sich bald in inniger Verbindung mit geistig hochgebildeten Aristokraten, die hinter der glatten Form des gewandten Diplomaten rasch den feingebildeten, erfahrenen Kenner entdecken. Dem Kreise, der Villers" freundschaftlichen Verkehr umschloß, wird es immer zum Ruhme gereichen, die ästhetischen und gelehrten Tendenzen des österreichischen Hochadels in Ehren gehalten und eine Entwicklung weitergeführt zu haben, deren Keime zur Zeit der Romantik gelegt worden sind. Oesterreichische Aristokraten sind damals einem Friedrich Schlegel entgegen gekommen, sie haben zu seinem "Deutschen Museum" Beiträge geliefert; und eine Gräfin Julie Zichy hat das Vorbild der lüderlichen Lucinde, hat Dorothea Schlegel, ihrer Freundschaft gewürdigt. Die geistigen Erben jener feudalen Romantiker machen auch V. österreichisches Land und österreichisches Leben lieb und werth. Ein Denkmal ihres Gedankenaustausches erstand in den Briefen, die V. an den Grafen Rudolf Hoyos, an Alexander Baron Warsberg, an Gräfin Bertha Nako und an andere Gleichgesinnte geschrieben hat. Dieser briefliche Verkehr gewann an Umfang und Vertiefung, Villers' Wesen kam zu völliger Entfaltung, als er dem diplomatischen Dienste entsagte, um in einsamer, selbstgeschaffener Klause zu Neulengbach bei Wien ausschließlich sich selbst und der Bildung seiner Individualität zu leben. V. schreibt einmal: "Malen ist eine Kunst, Dichten auch, und gar Musik; die größte Kunst aber ist Leben. Am eigenen Leben zum Künstler werden, ist allein werth, Zahnschmerzen zu dulden und Geld zu entbehren. Wenn die Finger erstarren, soll ein Kunstwerk herausfallen; der Eine bekam Gold zu einem Geschmeide, der Elfenbein zu einem Götterbilde; aber wär's auch nur eine Hand voll Lehm, ein Modell ließ' sich daraus kneten". Jetzt, in dem Wiesenhause bei Neulengbach, kann V. ungehemmt und unbeeinträchtigt sein Leben zu einem|Kunstwerk gestalten. Solche Lebenskunst offenbarte sich schon auf den ersten Blick jedem Besucher. Wie V. es verstanden hatte, eine einfache, schlichte Miethwohnung zu einem individuell gefärbten, künstlerisch gedachten Milieu zu gestalten, so drückt er auch dem kleinen, bescheidenen Landsitze den Stempel seiner Persönlichkeit auf. Der gewandte Gesellschafter, der correcte Diplomat wird bald Maurer, bald Gartenarbeiter, bald Landwirth, um mit Bewußtsein den Landsitz zum Werke seiner Hand zu machen. Und wie er bildend und gestaltend, im Großen wie im Kleinen, seine äußere Umgebung sich selbst schafft, so läßt er auch den Selbstbildungsdrang seiner Jugend frei und schrankenlos sich ausleben. Was die Zeit und was die großen Culturepochen der Vergangenheit ihm bieten, er bringt sichs nahe. Er genießt, was ihm schön dünkt, nur um seine Individualität auszuweiten. Er lebt sich in Fremdes und Fernes ein, um — wie Ranke das nennt — ein Mitgefühl fremden Daseins zu gewinnen. Ein Dilettantismus edelster Art, Dilettantismus im höchsten Sinne, Dilettantismus insbesondere, weil V. fast nie den Gewinn seiner Selbstbildung in die Welt hinausgetragen hat. Wie ein andrer Lebenskünstler, dessen Bild J. Elias liebevoll und verständnißvoll an dieser Stelle gezeichnet hat, wie Johann Gottlieb Regis, fühlte auch 35. nie einen inneren Trieb, das Ergebniß seiner Studien dem Publicum vorzulegen. Nur in Briefen streute er seine reiche Bildung, seine reiche Individualität aus. Was er erschaut und was er schildert, er erschaut und schildert es als Mensch. Der tiefe menschliche Antheil, mit dem er einfache und schlichte Naturen, wie seine Haushälterin Cilli, mit dem er ein andermal den Bauer des Fuscher Thales beobachtet, er gemahnt an das sentimental liebevolle Interesse eines Rousseau, eines Sterne. Mit beiden theilt er die Mißachtung der Masse, die Vorliebe für den einzelnen Menschen. Obendrein war er ein Sonderling, wie Sterne ihn nicht besser zeichnen konnte, ein Mann intimster Sensationen, ein exclusiver, wählerischer Geist und doch wiederum wunderbar begabt, tief und voll nachzuempfinden, was ihm sympathisch, ihm geistig verwandt war. Seine allerindividuellste Subjectivität fand in der Zeit keine Form des Ausdrucks. Lieben, verständnißvollen Freunden konnte er brieflich seine Stimmungen und seine Beobachtungen, seine Interessen und seine Studien offenbaren. Die wenigen Feuilletons, die er zum Drucke brachte, stehen nicht auf der Höhe seiner Briefe. Wenn er etwa dem Publicum einer Wiener Zeitung Hübner's Buch über Sixtus V. (Wiener "Presse", 1870, Nr. 219, 266, 276) vorführt, spürt der Leser in jeder Zeile den geistreichen Weltmann; doch das Bewußtsein, zum Publicum zu sprechen, der Wunsch, dem Publicum sich anzupassen, raubt dem Stile Villers' seine feinsten und besten Mittel. V. mag die Grenze seiner Kraft gefühlt haben. Als vollends das von ihm übersetzte "Haus Darnley's" von Edward Bulwer auf dem Wiener Burgtheater kaum einen Achtungserfolg errang, da wurde er gänzlich von aller Oeffentlichkeit abgeschreckt. "Ich möchte lieber Maikäfer hüten und Wanzen spazieren führen, als etwas fürs Publicum thun", rief er aus. Er hat Aufsätze, Novellen, Erzählungen, ja einen Roman geschrieben; sie blieben unveröffentlicht. Und, so oft V. auch mit tiefgehendem Interesse und mit seinem Spürsinn an wissenschaftliche Probleme herantrat, er vermochte doch nicht seine frappirenden Aperçüs zu einer fachgemäßen Studie zu verdichten. Nicht als Fachmann, sondern als Mensch greift er jedes wissenschaftliche Problem an. Wenn er philosophische oder linguistische Studien treibt, holt er das menschlich Anziehende sich heraus, gelangt mehr als einmal zu völkerpsychologisch oder sprachhistorisch bemerkenswerthen Beobachtungen; doch auf dem Pfade der Wissenschaft, in schrankenloser Hingebung und Selbstentäußerung weiter zu gehen, war ihm versagt. Wir begreifen den Aerger, in den Männer der Wissenschaft durch ihn gelegentlich versetzt worden sind. V. interessirt sich einmal für Krystalllehre; ein Freund bringt mit vieler Mühe und mit großen Kosten eine Sammlung auserlesener Krystalle zusammen. Sofort regt sich Villers' künstlerischer Genußtrieb. Er freut sich der schönen Formen und denkt nicht mehr an mathematische Analyse dieser Formen. Das wissenschaftliche Interesse weicht dem individualistischen Sinne des Lebenskünstlers. Er verwerthet die Sammlung, um die Wände seines Salons zu schmücken und ihnen einen ganz neuen Augenreiz zu gewähren. V. hat auch componirt, Claviermusik, Kammermusik; aber auch als Componist geht er nie über die Grenzen eines selbstgewollten Dilettantismus hinaus. Man führte seine Quartette auf, man rühmte den reinen vierstimmigen Satz und die gute Führung der einzelnen Stimmen. Dennoch ist der Musiker V. noch weniger bekannt geworden, als der Schriftsteller V. Und ihm selbst wars schließlich nur darum zu thun, harmonische Töne für seinen eignen Genuß aus dem Clavier zu holen. Im besten Falle rang er nach dem Beifalle Epstein's oder Hellmesberger's. Immer wieder setzt das Individuum seine Kräfte nur zu eigner Befriedigung in Thätigkeit; es schafft nur, um alles Geschaffene sofort auf sich selbst zu reflectiren. Das Können dient nur dem Empfinden. In der Kunst des Empfindens hat V. Schule gemacht; nicht nur sein Freund Alexander v. Warsberg sieht mit Villers' Auge, wenn er Griechenland und Italien genießt und seinem Genusse Ausdruck leiht. Man hat Villers' Wesen mit Recht als einen Cultus des inneren Adels bezeichnet, der den Einzelnen über die Masse hebt und ihn mit ruhiger Sicherheit seine selbstgezogenen Bahnen wandeln läßt. Solchen Cultus inneren Adels zu treiben, fühlte sich nach V. in Oesterreich mancher berufen. Und wie V. grade in Oesterreich seine Individualität am besten ausgestalten zu können meinte, so deuten seine Schüler und Gesinnungsgenossen gerne und mit Stolz auf ihr österreichisches Vaterland, das der freien Entwicklung voller Persönlichkeiten geneigter zu sein scheint, als der ausgleichende und uniformirende Norden Deutschlands. Zu Grunde liegt solcher vielleicht einseitigen Verehrung Oesterreichs der Gedanke, daß der Deutsche nur in Wien auf dem Boden alter, verfeinerter Cultur stehe. Der Wunsch, verfeinerte geistige Cultur zu genießen, selbst zum Vertreter eines verfeinerten Empfindungslebens zu werden, erklärt die Sympathieen, die V. und seine Schüler für Paris und für Frankreich hegen, und die ihnen das derber construirte reichsdeutsche Wesen antipathisch machen. Keiner konnte in den großen Jahren 1870 und 1871 die Erfolge der deutschen Waffen bitterer beklagen, als V. Er mußte ja von seinem Standpunkte aus in ihnen ein Unterliegen der höheren Cultur erblicken. Und wie V. dem nationalen Sturm und Drang des damaligen Deutschlands seine Bewunderung versagte, so wenden sich seine heutigen Gesinnungsgenossen von dem literarischen und künstlerischen Sturm und Drang Deutschlands ab, um Hand in Hand mit Frankreich feinsten und allerfeinsten Kunst- und Dichtungssensationen lebend der Renaissance zu huldigen. Mag V. immerhin diese künstlerischen Tendenzen nicht mit gleicher Klarheit festgehalten haben, sein Wesen befähigte ihn doch, solchen Bestrebungen als leuchtendes Vorbild zu dienen. Der Culturhistoriker aber darf den Zusammenhang nicht übersehen. Der Sterne'sche Sonderling kam in Villers' letzten Lebensjahren mehr und mehr zur Geltung. Selten besuchte er Wien; nur die Pflichten des Aufsichtsrathes einer Wiener Versicherungsgesellschaft riefen ihn in die Stadt. Jedesmal brachte er eine neue Marotte mit. Glaubt man nicht einen Bericht des englischen Humoristen zu lesen, wenn Warsberg erzählt, V. habe zuletzt seine Winterkleidung durch eine Ueberhose ergänzt, die er im Vorzimmer ablegte? Ueberhosen meinte er, seien bei unseren klimatischen Verhältnissen nothwendiger als Ueberröcke. V. starb schon am 16. Februar 1880; ein Herzleiden machte seinem Leben ein plötzliches Ende. Graf Rudolf Hoyos legte alsbald eine|Sammlung Villers'scher Briefe vor (Wien 1881); er rechnete nur auf eine kleine Gemeinde. Doch schon 1887 war eine zweite Auflage nothwendig geworden, der Graf Hoyos einen zweiten Band Briefe anfügte. Mit Genugthuung konnte er feststellen, daß "nicht nur Einzelne, sondern eine große Leserzahl mit V. gelacht, geweint und denkend sich erhoben" habe. Eine kurze Skizze von Warsberg leitet die zweite Ausgabe ein. E. Guglia hat dieser zweiten Sammlung einen seinsinnigen Artikel gewidmet (Münch. Allg. Ztg. 1887 Beil. Nr. 46), neben dem hier nur M. Herzfeld's Studie (Menschen und Bücher: Wien 1893, S. 72—84) genannt sei.  Oskar F. Walzel
Oskar F. Walzel., „Villers , Alexander v.“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896), S. 779

 








Voltaires Mahomet









Etwas zum Gucken für die Freunde der rollenden Räder:

Heinrich Lützeler (19o2-1988) war ein legendärer Bonner Hochschullehrer, der bei den Nazis Berufsverbot hatte. Sein schöner Eisenbahn-Bildband erschien 1971 und ist im Modernen Antiquariat ab 1 ct (+Porto) zu schnappen: zweifellos der beste Kauf des Jahres.






Mark Twain

Überlegungen zur Kunst der Onanie…

Vor 100 Jahren starb Mark Twain. Hier in deutscher Sprache zu lesen: Der Vortrag, den der Autor im Jahre 1879 in Paris hielt

Mein geschätzter Vorredner hat Sie vor dem »gesellschaftlichen Übel des Ehebruchs« gewarnt. In seinem hervorragenden Beitrag hat er dieses Thema erschöpfend behandelt – ihm ist absolut nichts mehr hinzuzufügen. Doch ich werde seine verdienstvolle Arbeit für die Sache der Moral fortsetzen, indem ich Sie vor jenem Freizeitvergnügen warne, das man Selbstbefleckung nennt und dem Sie, wie ich annehme, allzu sehr zugetan sind.

Alle bedeutenden Autoren der Antike und der Moderne, die sich über Gesundheit und Moral geäußert haben, ringen mit diesem erhabenen Thema: Dies beweist dessen Würde und Bedeutung. Einige von ihnen haben die eine Ansicht vertreten, andere eine abweichende.

Homer ruft im zweiten Buch der Ilias mit feinem Enthusiasmus aus: »Lasst mich masturbieren – oder sterben!« Cäsar sagt in seinen Kommentaren: »Dem Einsamen bedeutet sie Gesellschaft, dem Verlassenen Freundschaft, dem Alten und Impotenten Wohltat, und die Armen werden durch diesen herrlichen Zeitvertreib reich.« An einer anderen Stelle meint dieser scharfe Beobachter: »Es gibt Zeiten, da ziehe ich sie der Homoerotik vor.«

Robinson Crusoe bemerkt: »Ich kann gar nicht beschreiben, was ich dieser edlen Kunst verdanke.« Königin Elisabeth sagte: »Sie ist das Bollwerk der Jungfräulichkeit.« Und der Zulu-König Cetewayo meinte: »Ein Spatz in der Hand ist besser als ein Täubchen im Busch.« Der unsterbliche Franklin stellte fest: »Die Masturbation ist die Mutter aller Erfindung.« Und: »Masturbation ist die klügste Politik.«

Michelangelo und all die anderen Altmeister des – wenn ich so sagen darf – Pinsels haben sich ähnlich ausgedrückt. Michelangelo bemerkte einst zu Papst Julius II.: »Selbstverleugnung ist edel, Selbstentfaltung nützlich, Selbstbeherrschung mannhaft – doch für eine wahrhaft große, inspirierende Seele sind diese Eigenschaften im Vergleich zur Selbstbefleckung armselig und fade.« Auf diese spielt Mister Brown in einem seiner neuesten und anmutigsten Gedichte an, dessen elegante Verse alle Zeiten überdauern werden: »Jeder, der sie kennt, liebt sie, / Jeder, der sie nennt, lobt sie«.

So äußern sich die berühmtesten Meister dieser angesehenen Hand-Arbeit und deren Apologeten. Doch die Zahl derjenigen, von denen sie geschmäht und bekämpft wird, ist Legion. Sie haben starke Argumente ins Feld geführt und erbitterte Reden gegen sie gehalten – die Zeit reicht nicht aus, um sie hier im Detail zu wiederholen.

Brigham Young, ein Experte von unzweifelhafter Autorität, meinte: »Verglichen mit jener anderen Möglichkeit, unterscheidet diese sich wie der Leuchtkäfer vom Blitz.« Salomon bemerkte: »Für sie spricht nur, dass sie preiswert ist.« Galen sagte: »Es ist eine Schande, für tierische Zwecke jenes großartige und prächtige Glied zu missbrauchen, das wir Jünger der Wissenschaft als ›maxilla maior‹ bezeichnen, wenn sie es überhaupt benennen – was selten ist. Es wäre besser, diesen großen Knochen zu köpfen, als ihn so zu missbrauchen.« Adam Smith, der große Statistiker, stellt in seinem Bericht an das Parlament fest: »Nach meiner Ansicht sind auf diese Weise mehr Kinder verschleudert worden als auf irgendeine andere.«

Zweifellos verdient das hohe Ansehen dieser Kunst unseren Respekt, doch zugleich erfordert deren Schädlichkeit unsere Ablehnung. Mister Darwin musste zu seinem Bedauern seine Theorie aufgeben, dass der Affe das Bindeglied zwischen dem Menschen und den niederen Tierarten sei. Dies war, meine ich, voreilig. Neben dem Menschen ist der Affe das einzige Lebewesen, das diese Kunst praktiziert: Daher ist er unser Bruder – ein Band der Sympathie und der Verwandtschaft verbindet uns. Sobald dieses kluge Tier ein geeignetes Publikum gefunden hat, unterbricht es alle anderen Tätigkeiten und wetzt sich einen. Und an seinen Verrenkungen und an seinem ekstatischen Gesichtsausdruck können Sie erkennen, dass er ein intelligentes und menschliches Interesse an seiner Tätigkeit zeigt.

Die Anzeichen für exzessives Schwelgen in diesem zerstörerischen Zeitvertreib sind leicht zu erkennen: die Neigung, zu essen, zu trinken, zu rauchen, gesellig zusammenzukommen, zu lachen, zu scherzen und unanständige Geschichten zu erzählen – und vor allem der Drang, Bilder zu malen. Die Folgen dieser Gewohnheit sind: Verlust des Gedächtnisses, der Männlichkeit, der Fröhlichkeit, der Zuversicht, des Charakters und der Nachkommenschaft.

Von allen Arten sexueller Betätigung ist diese am wenigsten empfehlenswert: Als Vergnügen ist sie zu flüchtig, als Beschäftigung zu ermüdend, als öffentliche Vorführung finanziell nicht lohnend. Sie ist nicht salonfähig, und aus jeder kultivierten Gesellschaft ist sie längst verbannt worden. Sie ist schließlich in unserer fortschrittlichen Zeit auf die gleiche Stufe wie die Flatulenz herabgewürdigt worden. Die Besterzogenen huldigen diesen beiden Künsten jetzt nur noch privat, obwohl in einer gepflegten Männergesellschaft das Embargo auf den fundamentalen Seufzer aufgehoben werden kann, wenn alle zustimmen.

Mein geschätzter Vorredner hat Sie gelehrt, dass alle Arten des »gesellschaftlichen Übels« schlecht sind. Ich möchte Sie darüber aufklären, dass einige dieser Spielarten schlimmer sind als die anderen. Daher rufe ich Ihnen am Schluss zu: Wenn Sie Ihr Leben unbedingt sexuell verplempern müssen, dann machen Sie keinen Alleingang zu viel! Falls Sie in Ihrem Organismus eine aufrührerische Erhebung verspüren, sollten Sie nicht – wie 1871 die Kommunarden die Säule am Place Vendôme – Ihren Ständer selber herunterholen.

Aus dem Englischen von Theo Stemmler







Vatikan: Keine heiligen Ersatzteile mehr



Vatikanstadt, 02.02.2011 (KAP) Benedikt XVI. ist nicht mehr im Besitz eines gültigen Organspendeausweises. Zwar treffe es zu, dass der Papst über einen Organspende-Ausweis verfüge, heißt es in einem Schreiben des päpstlichen Privatsekretärs Georg Gänswein an den deutschen Arzt Gero Winkelmann, aus dem Radio Vatikan am Mittwoch zitierte. "Entgegen mancher öffentlicher Behauptung" sei der aus den 1970er Jahren stammende Organspende-Ausweis mit der Wahl Kardinal Ratzingers zum Papst jedoch von selbst hinfällig geworden, hebt Gänswein in dem Brief hervor. Jede Berufung auf das ungültig gewordene Dokument sei deshalb verfehlt.






Kleine Handreichung für eBook-Reader-Interessenten


Von Niels Höpfner
Meiner Meinung nach ist erst jetzt, anno domini 2011, die 1. eBook-Reader-Generation auf dem Markt, die einen Kauf lohnt.
A priori schließe ich den KINDLE von Amazon und den OYO von Thalia aus: beide legen den Käufer durch Direktverbindung an die Leine & können ihn überwachen wie Big Brother… alle Käufe werden registriert… in den Shops erworbene eBooks lassen sich nicht problemlos weitergeben & können auch jederzeit zurückgerufen werden… das ist Diktatur, die schärfstens abgelehnt, ja, bekämpft werden muss: durch Boykott & Ächtung…
Eine Grundeinsicht: der Kauf von eBooks kommt nur via PC in Frage (möglichst auf verschiedene Händler verteilt)…
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Tests haben mir gezeigt, dass nur ein eBook-Reader mit 7``-Display praktikabel ist. Die meisten Reader haben ein 5-6``-Display, können also aussortiert werden. Somit auch die, zugegeben eleganten, Produkte von Sony.
Der neue PRS 650 von Sony ist zwar technisch beeindruckend mit seinem Touchscreen, aber in seiner Niedlichkeit eigentlich doch nur etwas für die Damenhandtasche. Der Preis: 229-249 Euro; unverschämt die Arroganz des Herstellers: Netzadapter & Hülle sind nicht inbegriffen, das Gesamtpaket kostet dann 300 Euro (= 600 DM: für uns Wertkonservative). Obendrein hat der Weltkonzern auch noch Lieferschwierigkeiten.
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Mein unbestrittener eBook-Reader-Favorit ist derzeit das

Odys MediaBook X600001 Scala 17cm (7 Zoll).







Das ODYS wiegt 340 g. Sein farbiges Display hat fast die Größe von A5, also Taschenbuchformat. Keine Schultafel wie das (überdies viel zu teure) iPad.
Die Bedienung unterfordert Kinder über 10.
Via USB kann man auf den 4 GB-Speicher mehr als 2000 Bücher laden, wenn man auf Musik & Fotos verzichtet. Ambulante Lesezeit: ca. 10 Stunden (ohne Musik); Ladezeit des grundleeren Akkus: 3-4 Stunden.
Die Buchliste zeigt jeweils 7 Titel - leider lässt sich die Gesamtliste nicht scrollen (wie beim iPod etwa), das muss peu à peu manuell durch Tastendruck geschehen (für mich der einzige Mangel). Schriftgröße & Helligkeit des Displays sind wählbar. Links und rechts daumengroße Umblättertasten, aber das Umblättern lässt sich auch automatisch fixieren. Hält man den Reader waagerecht, wechselt das Schriftlayout entsprechend (ausschaltbare Funktion). Das ODYS wird mit Netzadapter geliefert und mit einer mattschwarzen Hülle (falls kein Leder, ist der Fake perfekt; schlau die Magnetschnalle). Im Handel kostet das ODYS 121-162 Euro (unbedingt Preis-Portale konsultieren!).
Technisch identisch mit dem ODYS, aber im Design etwas hässlicher, ist der TREKSTOR eBOOK PLAYER 7. Er wird ohne Hülle & Netzadapter geliefert, in einer grausamen Plastikpackung. Der unsägliche Media Markt hat/te ihn im Angebot für 67 Euro (!), der Normalpreis liegt bei 90-120 Euro.
Es macht großen Spaß & große Lust, per eBook-Reader zu lesen. Und da muss erst eine alte Dame (80), die Schriftstellerin Ruth Klüger, kommen und uns jüngeren Ignoranten den Weg in die Lesezukunft weisen:

Anders lesen


Bekenntnisse einer süchtigen E-Book-Leserin
Ruth Klüger

Wo immer man in diesen Tagen im Literaturbetrieb hinhört, bei Buchmessen, Verlagsveranstaltungen, unter Zeitungs- und Zeitschriftenredaktoren, überall ist die Rede vom elektronischen Lesen, das wie eine gewaltige Welle auf uns zukommt. Meistens hört man zugleich beschwichtigende Worte, diese Geräte seien ohnehin nicht so gut und würden das papierene Produkt nicht gleich ersetzen oder auch überhaupt nicht ersetzen und das Buch, wie wir es kennen, werde sich gegen alle Angriffe vonseiten einer fortschreitenden Digitalisierung weiterhin durchsetzen. Ich bekenne rundheraus und sofort, dass ich auf der anderen Seite stehe, als eine begeisterte E-Book-Konvertitin [...] Dieses Bekenntnis mag überraschen, da es von einer eingefleischten Leserin stammt, die an der Schwelle ihres neunten Lebensjahrzehnts steht und seit ihrem sechsten Jahr auf Papier gedruckte Schrift wie eine Droge zu sich nimmt.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: So bequem liest sich ein Buch ja gar nicht. Früher hat man oft stehend oder auch gehend gelesen (man denke an eine bekannte Szene im «Hamlet», wo der lesende Held vom aufdringlichen Polonius unterbrochen wird), heute lesen wir eher im Ruhezustand. Man probiert's auf dem Bauch oder auf der Seite liegend, im weichen Sessel mit hochgezogenen Füssen oder auf dem Fussboden mit untergeschlagenen Beinen oder mit steifer Lehne im Rücken und Füssen auf dem Schreibtisch. Ein Bein schläft ein, man hat das Bedürfnis, sich zu strecken, weil man zu lange in derselben Position verharrte. Oft ist das Buch zu klein oder zu gross oder zu schwer, der Druck zu schwach oder zu fett, die Zeilen zu dicht aneinander, die Seiten zu dünn. Das E-Book schafft Abhilfe. Die elektronische Revolution in den Lesegewohnheiten eines breiten Publikums hat natürlich schon längst angefangen, mit dem Computer und dann mit dem Internet, aber für die gewöhnliche Leserin, wie ich eine bin, ist sie erst jetzt interessant geworden. Es bleibt mir jedoch ein gewisses Grauen über die Leichtigkeit, mit der ich mir dieses neue, wie soll man es nennen?, vielleicht «Schriftvermittlungssystem» zu eigen gemacht habe. Denn ich selbst bin ein Buchmensch, habe die sogenannte Droge Buch, die eigentlich eine Droge Lesen ist, bisher nur als Papier zu mir genommen und bin ihr so rettungslos verfallen, dass ich mir nichts Ärgeres vorstellen kann als die globale Vernichtung der Lesebrille, selbst wenn ich zum Ausgleich eine Sklavin bekäme, die mir vierundzwanzig Stunden lang vorläse und es so schön könnte wie Scheherezade persönlich. Je länger ich das E-Book benütze, desto deutlicher wird mir, dass mir nicht sehr viel an der Verpackung, den Buchdeckeln und den raschelnden Seiten liegt, sondern nur noch am Inhalt. Nicht dass ich meine Bücher aus dem Regal werfen will, sie bleiben und definieren mich für den Besucher viel eher als der Teppich oder das Sofa. Doch die Lust, neue zu kaufen, hat sich verringert, während ich impulsiv immer mehr elektronisches Lesematerial bestelle. […]

22. November 2010, Neue Zürcher Zeitung


Mit einem eBook-Reader wird endlich die Spießerfrage obsolet: Welche 3 Bücher nimmst du mit auf die Insel? Dann muss es auf der Insel nur noch eine Steckdose geben, zum Aufladen des Akkus...

PS Die technische Entwicklung geht weiter. Mein neuester Ebook-Reader-Favorit: Trekstor Liro Color mit ANDROID-Technologie; zu einem sensationellem Preis: 99,99 €



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“The eBook User’s Bill of Rights”


Die “eBook User’s Bill of Rights” ist ein Statement zu den Grundfreiheiten, die jedem E-Book-Nutzer garantiert werden sollten.
Jeder E-Book-Nutzer sollte folgende Rechte besitzen:
•das Recht, E-Books mit Lizenzen zu nutzen, die den Zugang über proprietäre Beschränkungen setzen
•das Recht, E-Books auf jeder technologischen Plattform nutzen zu können, inklusive der Hard- und Software, welche die Nutzer dafür auswählen
•das Recht, die Texte zu annotieren, Passagen zu zitieren, zu drucken und Inhalte des E-Books im Rahmen des Urheberrechts (und Fair Use) zu teilen/ zu verleihen
•das Recht, dass der Erschöpfungsgrundsatz auch auf den digitalen Inhalt übertragen wird, so dass es dem E-Book-Besitzer erlaubt ist, das E-Book dauerhaft zu speichern, archivieren, zu teilen/verleihen und das erworbene E-Book wieder zu verkaufen.

Die deutsche Übertragung “eBook User’s Bill of Rights” von Dörte Böhner basiert auf dem Text der Librarian In Black Sarah Houghton-Jan.







Altersflecken auf der moralischen Haut 

Das Diktat der zeitgemässen Körperpflege verordnet apollinische Glätte und mosaisches Glänzen

Auf der Haut wird das Innenleben des Menschen ein gutes Stück sichtbar. Die Kosmetikindustrie gibt uns Mittel in die Hand, die Lesbarkeit der Haut einzuschränken und die Zeichenhaftigkeit vom Erröten bis zum Erbleichen im Hochglanz zum Verschwinden zu bringen. Piercings und Tattoos setzen dafür neue Akzente.

Von Manfred Schneider

Als Moses den Berg Sinai herabgestiegen kam, um den Israeliten die Gottesgabe der Zehn Gebote zu überbringen, da soll die Haut seines Gesichts geglänzt haben. Dieses Strahlen der Gesichtshaut blieb ein einmaliges Ereignis in der Geschichte des Alten Testaments. Niemand sonst, der mit dem obersten Herrn der Welt in Verbindung trat, trug eine solche glänzende Haut davon, weder Adam und Evas Nachfahren noch Abraham oder Jakob, kein Engel, kein Prophet. Erst die Kosmetikindustrie, die sich um unsere Gesichtshaut sorgt, die jetzt den Namen «Teint» trägt, machte sich daran, das Mosesstrahlen ohne Gottes Hilfe auf unseren Gesichtern anzufachen und uns allmorgendlich beim Abstieg aus dem Bad in die profane Welt zu solchem Glanz zu verhelfen, als hätten wir unseren Mitmenschen neue Gesetzestafeln zu verkünden.

Die Haut lesen

Aber tatsächlich setzen wir neue Gebote in Kraft. Zwar zeigt unser von Kosmetika und Wellnesspräparaten angeregter Teint nicht mehr an, dass die göttliche Überichcharta der Zehn Gebote zur Hand ist; unser Leuchten gehorcht dem Gebot der Werbung, wonach wir gleich jetzt die elysische Freude der Frische, des Wohlgeruchs, der Glätte und der Dauerjugend geniessen sollten. Unsere Haut bildet schon lange nicht mehr das verschleissanfällige Diaphragma vor den inneren Organlandschaften, wo Blut, Lymphe, Säfte, Hormone, Transmitter und andere Stoffwechselagenten für unser Körperheil sorgen. Die Haut ist eine Oberfläche, auf der sich unendliche Zeichenmengen tummeln, dass der Empfänger all dieser Botschaften gehalten ist, nicht zu aufdringlich den Blick auf diese Interfaces zu heften. Aber der Sommer gibt den Blicken viel zu tun.

In der heissen Zeit des Jahres, wenn die Zeitungen dünner werden und das Fernsehen dümmer wird, gleichen die blossgelegten Hautoberflächen das Informationsdefizit aus. An Stränden, auf Liegewiesen, in Parks, Beachclubs und Fitnessstudios strahlen die Leute ihre frohen Botschaften ab. Auskünfte erteilen die freigelegten Hauptpartien nicht nur über Alter und Geschlecht, Erotik und Askese, Genüsse und Gifte, über pyknische und leptosome Unterhautfette, über Pigmente und Narben; neuerdings sprechen auch Tätowierungen zu uns, plaudern von Piercings, Peelings, Botoxnarben und anderen Eingriffen in das epidermische Naturgeschehen. Nicht immer ist der Anblick so schön, dass man das Fernsehen völlig vergisst, aber die Beobachtungen fordern unser Nachdenken heraus.

Umbau des Männerkörpers

Obwohl also nicht mehr die religiösen Gesetzgeber den Körpern Vorschriften machen, sondern die Diktatur der Moden und kosmetischen Industrien, zeigt sich unverändert, dass die Leute einfach gerne auf Befehle hören. Ihren Gehorsam nennt die Soziologie «aussengeleitet», weil die Leute weder dem inneren Diktat ihres Gewissens folgen noch den Zwängen einer Tradition, die sich durch Alter bewährt; sie sind vielmehr bestimmt durch die Diktate der Werbung, der Mode. Zwar ändert sich das Gesetz der Mode unablässig, aber manches scheint auf Dauer gestellt. So ist das Design des Frauenkörpers im Grunde abgeschlossen. Jugendliche Frauen sind gehalten, wenn es der Sommer oder die Gelegenheit erlauben, möglichst viel von ihrer Haut zu zeigen; das Zeigen geht aber bis zu einer Grenze, die noch den Willen zur Verhüllung andeutet, wenn es auch nicht unbedingt Verhüllung ist.

Dagegen wird gegenwärtig die Epidermis des Männerkörpers radikal umgebaut. Der traditionelle erotische Männerkörper war behaart. Zumal die Behaarung der Brust galt einst als untrügliches Zeichen der Männlichkeit. Jetzt leben wir in der Epoche der glänzend-glatten Männerhaut. Gleichgültig, ob der Mann im Kino, in der Werbung oder im Sport Beine oder Brust entblösst, er ist glatt rasiert. Konnten die Schwimmer noch aquadynamische Argumente für ihre Glätte anführen, so ist der Peelingglanz auf der Haut der Boxer oder Duschgel-Mannequins ein auffälliges Signal. Was ist da geschehen?

Man mag sich vielleicht daran erinnern, dass ein griechischer Mythos erzählt, wie der Gott Apoll den Satyr Marsyas in einem musikalischen Wettkampf besiegte. Die Musen hatten nicht ganz fair entschieden, dass die Töne, die der Gott seiner Lyra entlockte, grösseres Wohlgefallen erregten als die Flötenweisen des Marsyas. Die Niederlage seines Rivalen nahm Apoll zum Anlass, Marsyas an einen Baum zu hängen und ihm eigenhändig die Haut abzuziehen, so dass der Flötist schliesslich so aussah, wie die plastinierten Leichen des Herrn Gunter von Hagen.

Bekanntlich ist ein Satyr ein reich behaartes Lebewesen, und diese Grausamkeit mag den apollinischen Gott, der das Schöne verwaltet, als ein ästhetischer Affekt überwältigt haben. Zwischen Marsyas und Apoll ging es auch um Glätte und Rauheit als kulturelle Alternative. Alle Bilder antiker Götter zeigen die Unsterblichen bisweilen bärtig, aber ohne Körperbehaarung. Die Nacktheit des Apolls von Belvedere erlaubt uns einen Blick auf die «divine parts», wo sich die Gotteshaut wie das Ergebnis einer Hightech-Rasur darbietet. Eifern die jungen Männer Europas und der USA, die nach Schätzungen der Kosmetikbranche bereits zur Hälfte das Gesetz der Ganzkörperrasur einhalten, dem belvederischen Apoll und seinen rasierten olympischen Genossen nach?

Triumph der Oberfläche

Die Glätte ist das moderne mosaische Gesetz in der Welt der Smarten und Erfolgreichen. Die ersten Szenen in der Verfilmung von Bret Easton Ellis' Roman «American Psycho» zeigen den New Yorker Investmentbanker Patrick Bateman bei der morgendlichen Körperpflege. Dabei rezitiert er seinen Katechismus: «I believe in taking care of myself.» Und dazu zählt er die Gebote seiner kosmetischen Religion auf: balance diet , crunching , Eismaske, Reinigungslotion, feuchtigkeitsaktivierende Crèmes.

Im Roman nimmt Batemans Bericht über die Liturgie der morgendlichen Körperpflege ganze fünf Seiten ein. Der Film lässt die Kamera über die glänzende Haut Patrick Batemans gehen, über die Dünenlandschaft seiner Bauchmuskulatur und über die schimmernde Plastik des Rückens. Apollinische Glätte und mosaisches Glänzen geben zu verstehen, dass diese Oberfläche keine Tiefe abschirmt, sondern allein aus dem spiegelglatten Aussen besteht. Die anschliessende Filmsequenz zeigt daher als Metapher dieses Hochglanzbodys die intransparenten Aussenflächen von verschiedenen New Yorker Wolkenkratzern, an denen Blicke und Neugierden in der gleichen Weise abperlen wie am Metallic von Patrick Batemans aufpolierter Oberarmmuskulatur.

Der Übergang von der behaarten Männerbrust zur glänzenden Plastik des Bodybuilding lässt sich ästhetisch und psychologisch als Triumph der Oberfläche deuten. In den fünfziger Jahren analysierte Roland Barthes in einem Essay der «Mythologies» noch die «Tiefenreklame» der Kosmetikindustrie. Damals versprachen alle auf die Haut aufgetragenen Präparate, ihre Wirkung in der Tiefendimension des Körpers zu entfalten. Wie die Physiognomie der abendländischen Tradition lehrte, spielte die Wahrheit des Gesichts und des Körpers in einer Tiefe, die damals noch als Arbeitsstätte der Seele oder des Herzens galt. Das haben wir hinter uns gebracht.

Unsere Eigenschaften, gute und schlechte, bewohnen keine Körper- oder Seelentiefen mehr, sondern richten sich auf der dünnen Epidermis ein, wo sich das Geschehen freilich überstürzt. Was dort sichtbar wird, sind daher nicht mehr die alten Zeichen des romantischen Romans, wo Blässe, Erröten, Erbleichen, Falten oder gar Schweissperlen über ein innerseelisches Geschehen berichteten. Die Oberfläche bleibt cool, aber eben darum lässt sie sich, ausser durch Make-ups, vor allem von Tattoos, Piercings, Dermabrasion, Botox aus ihrer trostlosen Naturbelassenheit reissen.

Das Schicksal der Körperhaare ist mit diesem Umbau verbunden. Weisen nicht Haare doch darauf, dass die Haut keine dichte Fläche bildet, sondern millionenfach perforiert ist und einem anonymen Wurzelgeschehen unterworfen ist? Der Triumph der apollinischen Glätte kommt in weltgeschichtlicher Perspektive unvorhergesehen, denn seit einem Vierteljahrhundert beobachteten wir den Aufstieg der rauen Stoffe, der Jutetaschen, Indienkleider und der Beuysschen Filzprodukte. Es schien so, als kehrte Marsyas, der traurige behaarte Flötenspieler, der bocksfüssige Vertreter unendlicher Seelentiefen und des tragischen Bewusstseins, in Gestalt grüner Protestjugendlicher aus seinem Exil zurück.

Der geschundene Marsyas (Louvre)

Aber der Outlaw, der sich den kosmetischen Geboten entzieht und den der Dichter und Dermatologe Gottfried Benn als hautneurotischen Künstler beschrieb: «brüchige Felle, Stoppeln, käsiger Bart, / blutunterflossenes Fett von Fuselräuschen», zeigt sich an keinem Strand und in keinem Strassencafé mehr. Selbst die Grünen entsteigen Hochglanzbroschüren, werfen sich in modische Kleidung und gehorchen dem Regime des Hautglänzens.

Das Schwinden der Zeichen

Wir müssen uns von Marsyas, dem Rauen, von den auf die Oberfläche steigenden Seelenzeichen verabschieden. Dahin schwindet aber auch eine kleine dermatologische Population unserer Sprache: Redensarten und metaphorische Wendungen, die das semantische Potenzial der Haut verarbeiten. Dass einem etwas «unter die Haut geht», dass etwas «Gänsehaut macht», dass man sich «auf die faule Haut» legt, dass jemand «eine ehrliche Haut» ist, dass jemand «dünnhäutig» ist, all dies setzt voraus, dass die Haut ein moralisch-seelisch transparentes Organ wäre, das sich von innen wie von aussen beschreiben lässt. Diese Ausdrücke müssen nun einer neuen Zeichensprache und einer neuen Syntax weichen, die die Haut zum Austragungsort des ewigen Kampfes gegen Altern und Tod erhebt. Die Haut als moralisches Organ zeigt Falten und Altersflecken.

Manfred Schneider lehrt deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.

Neue Zürcher Zeitung, 5.8.2011 





Die Menschenfresserin (Elfenbeinskulptur von Leonhard Kern, 1650; entstanden wohl unter dem Eindruck des 30-jährigen Krieges [1618-1648])




WELT, 12.8.2011

Z wie Zone

Von Marc Reichwein

Die Mauer kam, die Mauer fiel - aber die Zone blieb. Sie weitete sich sogar richtig aus, und ich meine jetzt nicht bei Maxim Biller, der Deutschland vor zwei Jahren zeihte, eine einzige D.D.R. ("Deutsche Deprimierende Republik") zu sein. Was die Zone angeht, eroberte sie zuerst die Titelseiten der Satire (unvergessen: die "Zonen-Gaby"), dann die Welt der Illustrierten: "Super-Illu" als gedruckte Sonderklatschzone am Kiosk.

Aber ich meine die Zone, die das Feuilleton zehn Jahre nach dem Mauerfall eroberte. Da erschien Michel Houellebecqs Roman "Ausweitung der Kampfzone" unter eben diesem Titel auf Deutsch. Die Spätfolgen beschäftigen Freunde des Überschriften-Feuilletonismus bis heute. Da droht uns wegen weiterer "Euro-Wackelkandidaten" die "Ausweitung der Zitterzone". Da mutiert eine Veranstaltung mit Historikern zur "Ausweitung der Erinnerungszone". Da kommentiert "Spiegel Online" den Trend, immer mehr Stehplätze in Bundesligastadien abzuschaffen, als "Ausweitung der VIP-Zone". Und was schreibt die "Süddeutsche Zeitung", wenn autofreier Sonntag in München ist? "Ausweitung der Latschzone" - natürlich.

Was für ein produktiver Überschriftenvollautomat.

Und jetzt einmal umgekehrt: Wie titelt man über Lokale, die Frühstück bis 18 Uhr anbieten: "Ausweitung der Brunchzone" (Kathrin Passig). Und der Boom der ganzen Tim Mälzers erlaubt es natürlich längst, von einer, Sie erraten es, "Ausweitung der Kochzone" zu sprechen.

So wie der Ernst-Jünger-Forscher und Hobby-Koch Tobias Wimbauer mal anfing, die "Geschmacksakkorde" von Jürgen Dollase in der "FAZ" mitzuzählen, könnte man feuilleton-, iwo, zeitungsweit den Zonenzähler installieren. Am Ende könnte man sich wohl auf die "Ausweitung der Erzählzone" einigen, unlängst als Feature im Deutschlandfunk zu hören. Denn dieses Überschriften-Muster erzählt - ja wovon eigentlich? Von der Einfallslosigkeit der Blattmacher oder von ihrer Kreativität? Auf jeden Fall von der Schlagzeilenträchtigkeit eingängiger Buch-, Film- oder Songtitel. Denn was ist die Überschrift anderes als eine feuilletonistisch gefasste Komprimierung dessen, worum es geht?

Ob Houellebecq weiß, wie sehr er die deutschen Zeitungen füllt, selbst wenn es gar nicht um seine Kampfzone geht? Fast schon verwirrt ist man ja mittlerweile, wenn die Zonenausweitung ausnahmsweise mal wirklich stattfindet, sei es als "Ausweitung der Evakuierungszone" in Fukushima oder als "Ausweitung der Anwohnerparkzone" in deutschen Städten. Und dann lesen wir in diesen Tagen, in denen Charlotte Roche ihre "Schoßgebete" loslässt, garantiert auch irgendwo wieder von der "Ausweitung der Intimzone". Ganz bestimmt!*

*Der Autor übersah: Roman Bucheli, Ausweitung der Intimzone. "Neue Zürcher Zeitung",  30.4.2o11


























DER HEILIGE KATER (28.2.2013)









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